MB 266 Judenzählung

Blutzählung

Von Michael Dak

 

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde ganz Deutschland von einer Welle des Patriotismus überschwemmt. Sie gipfelte in der Rede Kaiser Wilhelms II bei einem Empfang im Reichstag in Anwesenheit der Repräsentanten aller Parteien, aller Religionen und diverser Organisationen: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche! Zum Zeichen dessen, dass Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied, ohne Stammesunterschied, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten, mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod zu gehen, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.“

Dieses Zitat stellt Dr. Jacob Rosenthal[1] an den Anfang des Kapitels „Burgfrieden“ seiner historischen Studie über die Zählung der Juden im deutschen Heer. Zu Beginn des Krieges hatte es so ausgesehen, als seien die Barrieren für die volle Akkulturation und Gleichberechtigung der Juden aus dem Weg geräumt, auch was den Wehrdienst betraf. Hundert Jahre zuvor hatten die Juden den Kampf um das Recht aufgenommen, in die mittleren Dienstgrade der Reserve aufstiegen zu können, um sich so als zuverlässige Patrioten, Soldaten und Offiziere auszuweisen. Die hundert Jahre währenden Versuche trugen nicht die gewünschten Früchte, die Bestrebungen, zum inneren Zirkel der Armee zu gehören und sich als Helden auszuzeichnen, schlugen fehl. Nur wenigen, wie dem Major Mano Burg (1789–1814), gelang es durch Beharrlichkeit, trotz des Festhaltens am Judentum, die blutbespritzte rassistische Trennwand ohne ethnische oder geistige Ausgrenzung zu überwinden.

Die Absicht der Deutschen, zu Beginn des Ersten Weltkrieges eine einheitliche Front zu zeigen, brachte die antisemitische Obsession nicht von ihren Zielen ab, wie sich aus dem Wiedererstehen des Hammer-Verlages ersehen lässt, in dem der altbekannte Antisemit Theodor Fritsch schrieb: „Die Juden arbeiten eifrig an einen Plan, der in Kürze in dem Buch Juden beim Militär veröffentlich werden wird. Wir müssen auf der Hut sein und unsererseits Kriegsinformationen sammeln … Uns ist klar, dass die jüdische Frage nach dem Krieg erneut aufflackern wird. Die Juden werden mit verdoppeltem Elan ihre bekannten Forderungen an die deutsche Armee stellen.“

Die systematische Diffamierung nahm kein Ende, auch als jüdische Soldaten ihr Leben für die deutsche Heimat und die Verbündeten riskierten. Klagen über Klagen wegen massiver Fahnenflucht jüdischer Frontsoldaten wurden in die Welt gesetzt. Mit der Ernennung von Hindenburg und Ludendorff ins Verteidigungsministerium verstärkten sich die Anschuldigungen und fanden besonders im Amt des Generalmajors Ernst von Wrisberg, dem Direktor des Allgemeinen Kriegsdepartments im preußischen Kriegsministeriums in Berlin, starkes Echo.

Im Oktober 1916 ordnete Kriegsminister Wild von Hohenborn an, die Zahl der Juden, die in der Armee dienten, und derer, die sich vor dem Dienst drückten, zu erfassen. Die Formulierung des Erlasses weist auf die Erwartungen und auf die erhofften Resultate hin. Die Durchführenden waren alle Angehörige der Streitkräfte.

„Fortgesetzt laufen beim Kriegsministerium aus der Bevölkerung Klagen darüber ein, dass eine unverhältnismäßig große Anzahl wehrpflichtiger Angehöriger des israelitischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei oder sich von diesem unter allen nur möglichen Vorwänden drücke. Auch soll es nach diesen Mitteilungen eine große Zahl im Heeresdienst stehender Juden verstanden haben, eine Verwendung außerhalb der vordersten Front, also in dem Etappen- und Heimatgebiet und in Beamten- und Schreiberstellen zu finden.“

Die Daten wurden ohne jeden wissenschaftlichen oder anderen Anspruch erfasst. Allein die Tatsache einer solchen Untersuchung erschütterte die jüdische Öffentlichkeit bis zum Aufstieg der Nazis und darüber hinaus. Dass die Ergebnisse niemals veröffentlicht, sondern im Kriegsministerium ‚vergraben‘ wurden, die Wahrheit also niemals an den Tag kaum, ermöglichte der antisemitischen Hassmaschinerie das Weiterlaufen.

1922 schrieb Ludendorff in seinen Memoiren: „Die Kriegsgewinnler waren zunächst einmal hauptsächlich Juden. Sie erlangten einen beherrschenden Einfluss in den Kriegsgesellschaften […], die ihnen Gelegenheit boten, sich auf Kosten des deutschen Volkes zu bereichern und von der deutschen Wirtschaft Besitz zu ergreifen, um eines der Machtziele des jüdischen Volkes zu erreichen. … Die in Deutschland ansässigen Juden haben zweifellos mit dem Feind zusammengearbeitet.“

Und was sagte die Statistik?

Die Nichtveröffentlichung der Statistik wurde zum Nährboden tendenziöser Gerüchte und politischer Manipulationen. Als ein jüdischer Reichstagsabgeordneter die Veröffentlichung forderte, wurde ihm angedeutet, die Ergebnisse fielen für seine Glaubensbrüder ungünstig aus, woraufhin er es vorzog, zu schweigen. Die vertrauenswürdigste Quelle ist Prof. Dr. Franz Oppenheimer, ein Fachmann, der als Freiwilliger im Kriegsministerium arbeitete und 1922 eine Broschüre mit dem Titel ‚Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums‘ verfasste. Er untersuchte die Daten, die Ernst von Wrisberg, der für diesen ‚Apell‘ Veranwortliche, ihm zur Verfügung stellte. Dr. Oppenheimer stellte fest: „Der Verfasser ist davon überzeugt, dass sein Material für die Juden schädigend ist, doch führt er jedem, der von Statistik auch nur die geringste Ahnung hat, lediglich seine völlige Ignoranz vor Augen“ und zitiert den bekannten Spruch ‚Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken‘ hinzu.

Die Umfrage wurde im Oktober 1916 durchgeführt und ergab (durchgesickerten, mit Sicherheit tendenziösen Informationen gemäß) folgende Ergebnisse:

In den Infanterie-Regimentern:                           27.515

In kampfunterstützenden Einheiten                    4.753

In Besatzungs- und Verwaltungseinheiten:         30.005

Insgesamt dienten im Heer                                 62.272 Juden

Die Zahl der in Deutschland lebenden Juden lag bei 600.000; es dienten also etwas mehr als 10% im Heer, ein normaler Prozentsatz.

Oppenheimer kritisiert die ‚methodologische‘ Aggressivität der Umfrage, die tendenziöse Formulierung der Fragen hin, die fehlende Beaufsichtigung der ungeschulten Befrager, die antijüdische Stimmung in den Einheiten, die offene Erwartung der Auftraggeber nach möglichst geringen Zahlen, die Nichtberücksichtigung der zum Christentum Übergetretenen, die sich nicht als Juden offenbarten. Nicht berücksichtigt wurde ebenfalls der große Anteil der Ärzte (2557 waren Angehörige der medizinischen Berufen) und der Übersetzer, die auf militärischem Befehl bei der Verwaltung der Kampfgebiete eingesetzt wurden, ebenso wenig die deutliche Abnahme der Zahl der Männer im wehrpflichtigen Alter, weil die jungen Juden in jenen Jahren verstärkt nach Amerika ausgewandert waren, und natürlich der Anteil der Juden aus dem Osten, die als Ausländer nicht eingezogen wurden, wodurch sich die Zahl der deutsch-jüdischen Bevölkerung etwa um 70.000 verringerte und der prozentuale Anteil sich dementsprechend erhöhte.

Die Zahl der beim Militär dienenden Juden, wie sie von jüdischen Organisationen ermittelt wurden, wurde erst gegen Kriegsende und später deutlicher. Zunächst waren Hamburg, Posen und Elsass-Lothringen ausgelassen worden. Die neue Erfassung ergab ein ganz anderes Bild:

84.352 plus der geschätzten 11.975 Männer aus den drei nicht erfassten Staaten. Das heißt also, dass insgesamt fast 100.000 jüdische Soldaten dienten, also 17,3% der gesamten jüdischen Bevölkerung, und nicht 10%, wie die erste Auswertung ergeben hatte. (Von der restlichen deutschen Bevölkerung dienten 14%).

Am Ende seiner Broschüre untersucht Oppenheimer die Zahl der Gefallenen; er nennt sie die rote Zahl. Wenn sich die Juden tatsächlich vor dem Kampf an der Front gedrückt hätten, wie erklärt der Antisemit dann die hohe Zahl der gefallenen Juden? Die Zahlen zeigen, dass die jüdische Kampfbereitschaft die der andern Soldaten bei weitem übertraf. Die rote Zahl beweist außerdem: wenn auch die Zahl der Juden in der Etappe so hoch war wie angegeben, so ist die Zahl der an der Front gefallenen Juden relativ höher als die Zahl der gefallenen Nicht-Juden.

„Wir glauben zu wissen, wie sich die Herren vom Hakenkreuz in diesem peinlichem Dilemma verhalten werden. Sie werden mutvoll die ihnen unbequemen Tatsachen totschweigen, werden jede objektive Nachprüfung der roten Zahl zu verhindern versuchen und, wenn sie dennoch stattfindet, die Sachverständigen, selbst wenn es ihre eigenen Gesinnungsgenossen sein sollten, anklagen, von den Juden gekauft zu sein, weil nämlich das Ergebnis nicht nach ihren Wünschen ausfällt.“ Oppenheimer, der wusste, wovon er schrieb, fasst zusammen: „Wir stehen am Ende unserer kritischen Untersuchung dieser famosen Statistik, die nur gefährlich war, wie alle Gespenster, solange sie sich nicht an das Licht des Tages wagte. Jetzt hat sie sich als ein Besenstiel mit einem Leintuch enthüllt, und – das Lächerliche allein tötet!“ Die Frage, warum das Kriegsministerium nicht erfahrene Statistiker mit der Umfrage beauftragt hat, gab Oppenheimer an die gesamte deutsche Öffentlichkeit weiter: „Diese Frage zu stellen, hat die Öffentlichkeit, haben wir schwer in unserer Ehre gekränkten, in unserer Sicherheit und vielleicht sogar in unserer Existenz bedrohten deutschen Juden ein gutes Recht.“

Die deutschen Zionisten befanden sich in einer Zwickmühle. Der Reichsverein der Deutschen Juden veröffentlichte einen Artikel, der festlegte, dass der Zionismus sich für die osteuropäischen Juden eigne, nicht jedoch für die deutschen Juden, in deren Name der Reichsverein sprach. Darüber hinaus wurde behauptet, die zionistische Propaganda spiele den Antisemiten in die Hände, die in ihr eine Bestätigung der These sahen, die deutschen Juden seien keine Landeskinder.

Als es gegen Ende des Jahres 1917 so schien, als würde sich die deutsche Dominanz in Osteuropa perpetuieren, und Lord Balfour seine berühmte Erklärung verfasst hatte, wandten sich die führenden Köpfe der deutschen Zionisten an Vertreter des Außenministeriums und forderten, auch Deutschland müsse sich mit der nationalen Zukunft des jüdischen Volkes befassen. Als Resultat dieser Gespräche veröffentlichte das deutsche Außenministerium eine Erklärung, die sich für die Errichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina aussprach.

Der große Schriftsteller Avigdor Hameiri, der im Ersten Weltkrieg in der österreichisch-ungarischen Armee kämpfte, gibt in seinen Kriegsbeschreibungen dem Seelenleben eines Soldaten, der die zionistische Hoffnung in sich trägt und in einem Krieg kämpfen muss, der nicht der seine ist, herzzerreißenden literarischen Ausdruck. In seiner wunderbaren Erzählung ‚Madame Pompadour‘ beschreibt er Frontgerüchte von einer einarmigen Amazone. Der erste Satz lautet: „Nach dem letzten Kampf erhob sich wieder einmal die Frage nach dem Heldentum im Allgemeinen und nach dem jüdischen Heldentum im Besonderen …“.

Madame Pompadour war nichts anderes als ein Codewort für den einarmigen zionistischen Kämpfer Trumpeldor, und in den Geschichten über die literarische Heldin tauchen weitere verschlüsselte Namen auf wie Schawtinsky (Jabotinsky), der Doktor (Theodor Herzl), Belfer (Balfour) sowie der Wissenschaftler Wessmann (Prof. Weizmann). Die Gerüchte über diese Wegbereiter des Zionismus schweben wie gute, Brüderschaft inspirierende Geister über den kämpfenden jüdischen Soldaten und Offizieren und verleihen dem Geschehen eine messianische Atmosphäre.

Mark Twain und die Juden

Wehrdienst und Treue des jüdischen Soldaten beschäftigten Juden wie Antisemiten gleichermaßen. Immer wieder tauchte die Frage nach der Zugehörigkeit des Juden auf, die den Antisemiten zufolge im besten Fall eine doppelte sein konnte. Der amerikanische Schriftsteller Marc Twain schrieb bereits vor dem Ersten Weltkrieg über das Schicksal der jüdischen Soldaten beim Militär. Interessanterweise tat er das während eines längeren Aufenthalts in Österreich. Von dort berichtete er über eine Beratung im österreichischen Parlament, die den Einfluss der deutschen Sprache schwächte, indem sie dem Tschechischen im öffentlichen Raum einen größeren Einfluss zugestand. Ministerpräsident Bandy (polnischer Herkunft) musste aufgrund der Unruhen zurücktreten. Twain wies darauf hin, dass die Juden in diesem Fall zum schweigenden, politisch nicht engagierten Teil der Öffentlichkeit gehört hatten. Dennoch ergoss sich der meiste Hass über sie.

Twains Artikel ‚In Sachen der Juden‘ für Harper’s Magazine vom März 1898 enthält etliche Vorurteile gegen Juden. Später überprüfte Twain die Zahlen der beim Militär dienenden Juden und kam zum Ergebnis, dass die Juden im gleichen Verhältnis dienten wie andere Bevölkerungssegmente. Er war von der falschen Vermutung ausgegangen, dass in den USA 250 Millionen Juden lebten, es waren aber nur 250 Tausend. Diese Ergebnisse änderten Twains Einstellung. Nun erklärte der bekannte Schriftsteller: Der jüdische Soldat ist ein zweifacher Held, einmal wegen seines treuen patriotischen Dienstes und zweitens wegen des verächtlichen Verhaltens der anti-jüdischen Offiziere und Soldaten, das er über sich ergehen lassen muss. Die Nazis haben Twain das nicht vergessen und behauptet, er selber sei Jude gewesen. (Salomon Klemens nannten sie ihn in ihrer Boshaftigkeit.)

Der kämpfende Jude

Als die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten, bat ein bekannter jüdisch-amerikanischer Veteran, Sergeant Sam Dreben, der sich in verschiedenen Kämpfen bereits etliche Orden verdient hatte, wieder dabei sein zu dürfen. Sam Dreben war ein Einwanderer aus Russland und hatte während seines Armeedienstes an den spanisch-amerikanischen Kämpfen teilgenommen und auf den Philippinen und gegen die Mexikaner u.a. gekämpft. Er gehörte zu den ersten, die in Frankreich landeten, und wurde für sein Heldentum weitere Male ausgezeichnet. Der Schriftsteller Damon Runyon, den wir vor allem wegen seiner Stories aus New York kennen, brachte seine Wertschätzung für Sam Dreben in einem langen Gedicht zum Ausdruck, das für die Amerikaner zu einem Aushängeschild wurde und die amerikanischen Juden stolz machte. Es besingt die Statur und die Tapferkeit des Sergeanten und endet mit dem Satz: „Thank God Almighty / we will always have a few / like Dreben the Jew.“

Hugo Zuckermann, der moderne Makkabäer

In dieser fast zufälligen Auswahl darf einer nicht fehlen: Hugo Zuckermann, der österreichisch-jüdische Offizier tschechischer Herkunft. (Er stammte aus dem Sudetenland, aus Eger in der Nähe von Karlsbad.) Zuckermann war ein begeisterter Patriot, dazu ein begabter Dichter. Er kämpfte für seine Heimat und war gleichzeitig ein engagierter Zionist, übersetzte jiddische Werke ins Deutsche und errichtete eine lyrische Brücke zwischen den Makkabäern und zwischen den Juden, die für ihr Vaterland kämpften. Zuckermann fiel 1914 im Kampf, er war dreiunddreißig Jahre alt. Sein bekanntestes patriotisches Gedicht ist das von Franz Lehar vertonte ‚Österreichische Reiterlied‘.

Drüben am Wiesenrand
Hocken zwei Dohlen.
Fall ich am Donaustrand?
Sterb ich in Polen?
Was liegt daran?
Eh sie meine Seele holen,
Sterb ich als Reitersmann.

Drüben am Ackerrain
Schreien zwei Raben,
Werd ich der erste sein,
Den sie begraben?
Was ist dabei?
Viele Hunderttausend traben
In Österreichs Reiterei!

Drüben im Abendrot
Fliegen zwei Krähen,
Wann kommt der Schnitter Tod,
Um uns zu mähen?
Es ist nicht schad!
Sehe ich nur unsre Fahnen
Wehen auf Belgerad!

Drüben am Wiesenrand
Hocken zwei Dohlen.
Fall ich am Donaustrand?
Sterb' ich in Polen?
Was liegt daran?
Eh sie meine Seele holen,
Kämpf ich als Reitersmann.

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