An die Musik

Meinem Vater Kurt Hirschfeld zum Gedenken

 

Von Ariel Hirschfeld

 

Nicht alle Jeckes waren pünktlich, nicht alle waren gründlich und nur wenige von ihnen aßen wirklich Schlagsahne. Die israelische Wirklichkeit versah die verschiedenen, aus der Diaspora eintreffenden Gruppen mit Sortiment von Etiketten, und die Jeckes erhielten eine besonders kräftige Portion: Pünktlichkeit, Geiz, Fleiß, Gründlichkeit, Schlagsahne, Apfelstrudel, Begriffsstutzigkeit und die Unfähigkeit, Iwrit zu lernen …

Wer wollte heute noch darüber streiten. Die meisten Jeckes weilen nicht mehr unter uns, und auch diejenigen, die ihnen diese Eigenschaften zuschrieben, verschwinden allmählich. Anders als einige ethnische Gemeinschaften aus dem Vorderen Orient, deren Etiketten sich alle zehn Jahre erneuern, und anders als die in der israelischen Gesellschaft gewachsene ‚Polnischkeit‘, eine Art törichter Oberbegriff für alle möglichen überflüssigen Schuldgefühle, Ängste, Befürchtungen, symbiotische Mütterlichkeit und Heuchelei, sind die Jeckes von der Bildfläche verschwunden und das Wort ‚Jecke’ut‘ ist ins Hebräische eingegangen als Synonym für Pünktlichkeit – mehr nicht. Nur ihre Nachkommen wissen noch um die Trennwand zwischen ihnen und dem israelischen Wesen, und das hat mit der deutschen Sprache oder Deutschland nichts zu tun, sondern mit einer anderen Seite der Israelischkeit, einer mit Pathos getränkten, die die der Jeckes war.

Wer hier bei uns im Land mit den verschiedenen ethnischen Etiketten versehen aufgewachsen ist, weiß, dass die Mitglieder der jeweiligen Gruppe ihren Teil zur Entstehung der Stereotypen beitrugen. Es war eine Art Feuertaufe oder Aufnahmeprüfung, der die israelische Gesellschaft die Neuankömmlinge, die sich ihr anschließen wollten, unterwarf. So stellte jede ethnische Gemeinschaft eine gewisse Partnerschaft her mit dem israelischen Wesen und fand in ihm eine, wenn auch belächelte oder gar verspottete, Identität. Der Spott beruhte zumeist auf der persönlichen Abweichung vom neuen, lediglich in der Vorstellung existierenden Israeli und erzeugte quasi eine neue Bedeutung; der bisher nicht definierte Charakter der Einwanderer hob sich vor dem neuen Umfeld deutlicher ab. So waren die Einwanderer aus den arabischen Ländern vorher niemals als ‚Orientalen‘ bezeichnet worden, auch die Jeckes waren vorher keine Jeckes gewesen und hatten keine Ahnung gehabt, wie viele Hindernisse sich zwischen ihnen und dem angestrebten israelischen Wesen auftürmten. Die „Israeliut“ wiederum definierte sich durch die Gegensätze zu den Neuankömmlingen. Bis heute sind der Diskurs und die Gespräche über Herkunft und Kultur in erster Linie ein Spiel mit verschiedenen Etiketten. Der israelische Humor bezieht bekanntlich seinen Zündstoff vorwiegend aus den Reibungen der ethnischen Gruppen, ihrer Eigenarten und Akzente. Ich will hier aber nicht weiter über die verschiedenen Kategorien reden, sondern über etwas, das wohl typisch war für viele Jeckes und auch in der Persönlichkeit meines Vaters großen Raum einnahm, das aber niemals von den geläufigen Etikettierungen erfasst wurde: ich meine die Beziehung der Jeckes zur Musik. Es gibt keine jüdische Kultur, weder im Osten noch im Westen, die keine tiefe Beziehung zur Musik hätte, doch diese Beziehung gestaltet sich in jeder Gemeinschaft anders.

Als mein Vater im Winter 1933 aus Deutschland nach Erez Israel kam, brachte er nur wenig mit: seine Handwerksgeräte, er war Zimmermann, Bücher und ein Möbelstück, einen kleinen Schrank in Würfelform, der auf der Vorder- und der Rückseite mit Türen ausgestattet war (das heißt, er war dafür bestimmt, in der Mitte eines Zimmers zu stehen und nicht etwa an der Wand). Das war sein Schallplattenschrank, ein schönes, selbst angefertigtes Stück, innen mit Mahagoni getäfelt, das in unserer Familie immer noch besonders pfleglich behandelt wird. Es war das Einzige aus Vater Welt, das heil und ganz aus Deutschland herüberkam. Alles andere änderte sich grundlegend. Er lernte Iwrit und sprach, las und schrieb es gut (!), gab den gewohnten Lebensstil völlig auf und passte sich den neuen Umständen an. „Unverständig“ war er keineswegs. Zu seinem Zionismus, seinen vielen Talenten und seinem Fleiß gesellten sich Charisma und große Geschäftstüchtigkeit. Er war ein erfolgreicher Mann und sein Erfolg wirkte sich auf die ganze Umgebung aus, weit über den engen Familienkreis hinaus.

Doch will ich hier weder über sein Berufsleben schreiben noch über seine tiefe Beziehung zu Kunst und Kultur, sondern über einen bestimmten Wesenszug, den er besaß, den ich auch an einigen seiner Jeckes-Freunde wahrnahm und den er unbeeinträchtigt an seine Kinder und über diese an seine Enkel weitergegeben hat: die Art und Weise nämlich, in der er Musik hörte. Wir hatten immer einen Plattenspieler im Haus, und bereits Ende der 1950-er legte Vater sich eine erstklassige Stereoanlage zu, einen Grundig Stereokonzertschrank, ohne Rücksicht auf die allgemeine Notlage oder auf die Einfachheit unserer andern Möbel zu nehmen. Denn er lauschte seinen Schallplatten, als begäbe er sich auf eine Insel, in eine Enklave des Glücks und der völligen Freiheit. Er verlor darüber kein Wort. Er ‚erzog‘ uns nicht zur Musik. Wir alle lauschten so intensiv wie er, und es war klar, dass das von ihm ausging. Legte jemand ‚eine Platte auf‘, setzten wir uns hin und hörten zu, und er ließ in seinem Arbeitszimmer alles stehen und liegen, lehnte sich in den Türrahmen und lauschte ebenfalls. Die Aufnahme der Töne ins Innere war wichtiger und entscheidender als die meisten Arbeiten und Sorgen, das war uns klar. Und wenn er selbst eine Platte auswählte und ihr lauschte, dann war er ganz und gar dabei und die Umgebung verschwand. Seine durchdringenden blauen Augen waren in weite Fernen gerichtet und all sein Erleben konzentrierte sich auf die Klänge. Wer ihn ansah, wenn sich ein aufwühlender musikalischer Übergang ankündigte, bemerkte manchmal, dass seine große Hand sich unwillkürlich zur Faust ballte. Er sprach dann nicht und sagte auch nicht „Pass auf, hör zu, die Stelle hier, dieser Übergang …“, denn er wusste, dass seine Kinder ohnehin schon seit langem, fast seit dem Säuglingsalter, genauso lauschten wie er.

Das 1. Klavierkonzert von Chopin mit Rubinstein (eine RCA Aufnahme, dirigiert von Stanislav Skrowaczewski), gegen Ende des 1. Satzes, die lebhafte Passage, die zum Schluss hinführt, wenn vor dem Hintergrund gebrochener Akkorde der rechten Hand die linke Hand mit dem Abstieg auf der chromatischen Leiter beginnt – an dieser Stelle ballt sich Vaters Hand zur Faust. Und bis heute sehe ich, wann immer ich mir dieses Konzert anhöre, seine große, sehnige Hand vor mir, die in dieser Weise auf die angesammelte Spannung reagiert, ein harmloses äußeres Anzeichen verborgener, von der Musik ausgelöster Gefühlswallungen.

Der Übergang von der langsamen Passage zum Finale von Beethovens Klavierkonzert „Emperor“ (wieder Rubinstein, Dirigent Josef Krips), Vater hält den Atem an. Im wahrsten Sinn des Wortes. Ehrfurcht und unendliches Staunen über den wundersamen Wandel, der sich in diesem Übergang vollzieht.

Kehrte er von Geschäftsreisen nach Tel Aviv zurück, trug er fast immer einen neuen musikalischen Schatz unter dem Arm. Einmal war das die ‚Symphonie Fantastique‘ von Berlioz. Vater kam mit seinem Partner (der ihm bei der Verwaltung der großen Schreinerei half) ins Zimmer, rief nach mir, ich solle komme und dem neuerworbenen Werk zuhören, das noch keiner von uns kannte. Wir standen während des ganzen ersten Satzes schweigend um den Schallplattenschrank herum. Etwas war geschehen, das spürten wir. Die bloße Tatsache, dass es eine solche Symphonie in der Welt gab, war überwältigend. Stellte Ansprüche, auch wenn niemand sie zu formulieren imstande war. Etwas in unserem Leben hatte sich verändert. Vaters Lauschen war ein eindringliches, es fand den Weg zu den einzelnen Instrumenten und den Stimmen der Chöre. Es war kein Mitgerissenwerden und auch keine Meditation. Es ähnelte dem Spielen selbst.

Einmal brachte Vater ‚La Traviata‘ mit. Ich war damals zehn Jahre alt. Einen ganzen Abend lang saßen wir zusammen, und er erklärte mir die Handlung Szene für Szene. Es war das erste Mal, dass ich etwas über die Tuberkulose erfuhr, über eine todbringende Krankheit, über Liebe, über bürgerliche Konventionen und über die erschreckende Wahl, das eigene Leben zu opfern.

Nach dem Ausklingen des Paukenschlags im Schlussakkord, kurz nachdem Violette verschieden ist und ihr Geliebter voller Schmerz und Reue zurückbleibt, überfiel mich ein Schweigen und ich konnte stundenlang kein Wort hervorbringen. Auch am nächsten Tag noch war ich tief erschüttert. Heute weiß ich, dass mein Vater mit den ernsthaften und genauen Erklärungen durch ein Tor in sein Inneres trat, wo ihn die schweren Schicksalsschläge seines eigenen Lebens erwarteten, Schicksalsschläge, wie es härtere nicht gibt. Und auch weiß ich heute, dass seit damals jedes richtige Zuhören, jedes echte Lesen sich an jenem Zuhören messen lassen muss.

Einige Wochen darauf brachte Vater den ‚Barbier von Sevilla‘ mit (Maria Callas, Tito Gobbi). Ich weiß nicht, ob er das absichtlich tat, um mir ein Heilmittel gegen ‚La Traviata‘ einzuflößen, oder ob ihn die herrliche neue Aufnahme begeistert hatte. Wie auch immer, der ‚Barbier‘ veränderte mein Leben. Ich lauschte ihm, wie ich ‚La Traviata‘ gelauscht hatte. Lauscht man allerdings Rossini mit dieser Konzentration, dann wird einem ein Trank heilenden Lachens gereicht, das tiefer dringt als jede Verlorenheit. Seitdem ist Rossini ‚mein‘ Komponist.

Ich kann das Geheimnis einer solchen Hingabe nicht erläutern, aber mir ist klar, dass mein Vater in der Sphäre der Musik jenseits aller Worte und allen Erwerbsstrebens direkt an den Kern des Lebens rührte und an die Grundlagen existentiellen Navigierens. Die Musik war für ihn keine ‚kulturelle‘ Begleitung des Daseins, keine Freizeitbeschäftigung für fade Stunden neben der eigentlichen Hauptsache. In der Musik vollzog sich für ihn die eigentliche Reise, die anderen Dinge waren bloß das Rudern und das Wasserpumpen im lecken Boot.

Ich will selbstverständlich nicht behaupten, dass mein Vater allein vom Jeckeswesen geprägt war. Vielleicht sollte man sogar die merkwürdige Möglichkeit erwägen, dass die besonderen Eigenschaften eines Menschen ausschlaggebender sind als jedwede ethnische Einfärbung. Klar ist natürlich, dass etwas von der deutschen Romantik noch in jener Generation vibrierte, aber dieses Etwas wirkte im Bewusstsein aller Angehörigen des europäischen Kulturkreises jener Zeit nach, und es bestimmte das Verhältnis zur Musik ebenfalls in Russland, in Polen, in Ungarn und in Rumänien. Clara Haskil oder Joseph Szigeti unterscheiden sich nicht wirklich von Emanuel Feuermann oder Artur Schnabel. Der Gegensatz zwischen dem ‚Deutschtum‘ und dem ‚Osteuropäertum‘ (der von beiden Seiten bereits in Europa gepflegt wurde) galt nicht in der Musik. Deswegen blieb die deutsche Hegemonie auf diesem Gebiet erhalten, über den Hass und die Isolation hinweg, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg umgaben.

Die Essenz der Beziehung der Deutschen zur Musik hat Franz von Schober in seinem – bekanntlich von Schubert vertonten – Gedicht ‚An die Musik‘ treffend wie kein anderer formuliert. Es ist ein banaler und sentimentaler Text, einer der schlimmsten, die Schubert je vertont hat, die Vertonung aber ist unbeschreiblich. Schubert verleiht den einfachen Worten eine sublime Tiefe und führt sie zurück zu den fundamentalen Sinnfragen. Der fragende Mensch, der vor dieser Musik steht, ist bereit, sich auf ihren Flügeln ganz eigentlich in eine andere Dimension des Daseins tragen zu lassen. Begriffe, die dies beschreiben könnten, müssten der Religion und Mystik entliehen werden, und deswegen lasse ich es beim bis jetzt Gesagten bewenden. Hier der Originaltext. Die Begrenztheit und Gefühlsseligkeit sind ein wichtiger Bestandteil des Gesamtbildes.

Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,

Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,

Hast du mein Herz zu warmer Lieb' entzunden,

Hast mich in eine beßre Welt entrückt!

Oft hat ein Seufzer, deiner Harf' entflossen,

Ein süßer, heiliger Akkord von dir

Den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen,

Du holde Kunst, ich danke dir dafür!

Prof. Ariel Hirschfeld ist Kulturforscher, Musikologe und Dozent für hebräische Literatur an derHebräischen Universität Jerusalem.

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