Kurzbiographie von Paul & Betti Alsberg 

Zusammengetragen von Florian Kempf,  März 2006

Vorwort:

Ob die Blätter dieser Kurzbiographie eines Vorwortes bedürfen, sei dahingestellt. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, ein weiteres hinzuzufügen, dass meine Motivation, meine Absicht und Erinnerung an diese Arbeit aufzeichnet.

Als Freiwilliger mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ist es unser Ziel Zeichen zu setzen, Zeichen gegen Rassismus, für Freundschaft und Verständigung. Nicht zuletzt gegen das Vergessen. Zu diesem Zweck arbeite ich mit dem „Irgun Olei Merkas Europa“ (Verband der Einwanderer aus Mitteleuropa) zusammen und erstelle Kurzdokumentationen von deutschsprachigen Einwanderern. Die Absicht ist es, Kurzbiographien von Mitgliedern des Irguns zu sammeln und sie später in einer kleinen Bibliothek für Interessierte zugänglich zu machen. Dabei steht im Vordergrund, einem „aussterbenden Geschlecht“ die Möglichkeit zu geben, ihr Leben, ihre Kultur und ihre Erfahrungen festzuhalten und für die Zukunft aufzubewahren. So wird den zukünftigen Generationen die Möglichkeit gegeben, ihre Geschichte und Herkunft zu verstehen und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. '

Diese Dokumentationen sind nicht als vollständige Biographien oder als vollständiger Werdegang zu verstehen, dazu würde es meist einiger Folianten bedürfen, vielmehr sollen sie einige Eindrücke des Lebens beschreiben und so eine grobe Übersicht bieten. Es ist stets die Bejahrtheit der Ereignisse zu berücksichtigen, so sollte man kleine Ungenauigkeiten entschuldigen. Auch sollte hier kein professionelles Literaturereignis erwartet werden, obgleich dies Jedem mit Sicherheit zustehen würde. Man soll einen flüchtigen Blick erhaschen können, mal eingehender, mal oberflächlicher.

Zur Sprachkultur sei gesagt, dass die Interviews spontanen Charakter haben. Sie sind also ohne Vorbereitung gemacht worden, unmittelbar und unverstellt. Damit entsprechen sie nicht der Schriftsprache, sind weniger objektiv, dafür aber wesentlich lebendiger und bunter.
An dieser Stelle möchte ich mich noch bei jedem Einzelnen Bedanken. Es ist für mich immer wieder eine Ehre und längst nicht selbstverständlich, die Türe geöffnet zu bekommen und eine so herzliche Offenheit zu erfahren. Mit der Geschichte im Hinterkopf bin ich mit Dankbarkeit erfüllt, diese Arbeit machen zu dürfen.

Kindheit 1919-1937

Paul Alsberg erblickte am 30. März 1919 in Wuppertal-Elberfeld das Licht der Welt. Er wurde in ein bürgerlich-liberal assimiliertes Elternhaus hineingeboren, hatte zwei Geschwister und einen großen, festgezogenen und eng verknüpften Verwandtschaftskreis.

Familie

„Wir hatten in meiner Familie immer sehr gute Beziehungen. Nicht nur die Eltern und die Geschwister, sondern auch die Onkel und Tanten und Cousinen. Und wir hatten eine sehr große Familie! Eine große Familie seitens meiner Mutter, wie auch seitens meines Vaters. Mann muss sich ja mal vorstellen, meine Urgroßeltern hatten 16 Kinder von denen 12 wirklich alte, erwachsene Leute wurden. Hinzu kam in unserer Familie die Komplikation, dass drei Familien immer wieder untereinander heirateten. Meine Urgroßmutter war gleichzeitig die Schwester meiner Großmutter. Es war die Urgroßmutter mütterlicherseits und die Schwester der Großmutter väterlicherseits. Ich habe für meine Kinder einmal einen Stammbaum gemacht. Er ist so verschlungen, dass man nicht mehr herausfindet. Sie können sich jedenfalls vorstellen, wie alle miteinander verbunden waren.“

Das Haus der Alsbergs in Wuppertal, in der Runnenstraße 22, stellte so etwas wie das Zentrum dieser weit reichenden Familie dar. Ein wenig wehmütig und doch freudig beschreibt Paul Alsberg seine Erinnerung an dieses Heim: „Ach Gott wissen sie, wir hatten ein wunder, wunderschönes Haus. Dieses Haus steht auch noch. Das Haus bewohnten wir natürlich, wie das damals üblich war, alleine. Ich habe nie gewusst wie viele Zimmer es hat. In der Eingangsetage, die schon ein Hochparterre war, waren nur Wohnräume. Dort gab es erstens ein großes Speisezimmer und anschließend ein Wintergarten. Außerdem ein so genanntes Herrenzimmer und einen so genannten Salon, indem ein großer Flügel stand. Dann gab es auf dieser Etage noch ein so genanntes Frühstückszimmer, indem aber nie gefrühstückt wurde, es war eher das Empfangszimmer. Untendrunter war der Keller mit einer großen Garage. Da drüber war die erste Etage.“ In der ersten Etage befanden sich die Zimmer von Paul und seinem Bruder, von seiner Schwester und das Schlafzimmer von seinen Eltern. Außerdem besaßen die Jungen der Familie ein sehr großes Spielzimmer. Paul erklärt weiter: „Auf der so genannten zweiten Etage waren ein großes Fremdenzimmer, ein Doppelzimmer, und ein Zimmer für unser Personal. Wir hatten zwei Dienstmädchen, Küchen- und Dienstmädchen und in den früheren Jahren auch ein Kindermädchen. Und natürlich die entsprechenden Badezimmer, die dazu gehörten. Toiletten gab es außerdem auf jeder halben Treppe, man nannte es auch damals immer die „halbe Treppe“. Damit meinte man die Toilette. Und da drüber waren die Mansardenzimmer. Die Mansardenzimmer waren aber nicht genutzt.“
In dem Haus der Familie Alsberg spielte sich verhältnismäßig viel ab. Man hatte sehr häufig Besuch, was nicht zuletzt mit der Finanzsituation der Familie zusammenhing. So wusste es Alfred Alsberg, Paul Alsbergs Vater, bis zu der großen Krise der Jahre 1930/31 der Familie auch finanziell sehr gut gehen zu lassen.

Er hatte von seinen Eltern das Bettengeschäft Alsberg in Elberfeld geerbt. Darum, so sein Sohn, hatte er einen Sozius. Daneben besaß Alfred Alsberg eine Schuhfabrik in Barmen, auf der Heckinghauserstraße. Auch daran kann sich Paul Alsberg noch erinnern: „Ich entsinn mich an diese Schuhfabrik zwar  sehr genau, aber ich könnte keinerlei Details angeben, ich wüsste nicht einmal die Nummer der Straße. Die Fabrik soll in seiner größten Zeit über 400 Leute beschäftigt haben. Vor vielen Jahren, als meine Frau und ich noch einmal in Wuppertal waren, rief eine Dame bei der Stadt an, beim Presseamt, und fragte, ob dieser Dr. Alsberg, der zu Besuch ist, was zu tun hat mit Alfred Alsberg, dem Besitzer der Schuhfabrik Rheinland. Und da sagte man ihr, sie solle mich doch selbst fragen. Ich wohnte damals im Hotel Kaiserhof. Und da hat sie angerufen und mir gesagt: „ach du bist der Poile“. Ich bin der Poile. Und sie hat mir erzählt, dass in der Fabrik, sie meinte, 400-600 Leute beschäftigt waren, mehr oder weniger. Außerdem erzählte sie, dass der Direktor der Schuhfabrik, ein Herr Speyer, sehr unangenehm war. Daran erinnere ich mich sehr gut. Der verstand etwas von Schuhen, während mein Vater aus der Bettenbrache kam. Mein Vater hat die ganze Schuhfabrik abgegeben an Karstadt, 1927/28.“

Nachdem Verkauf der Schuhfabrik eröffnete Alfred Alsberg zwei weitere Bettengeschäfte in Essen und Barmen. Außerdem erweiterte er das Geschäft auf Gardinen und Postermöbel. „Mein Vater fuhr jeden Tag mit seinem Auto von Elberfeld, von unserem Haus, nach Barmen, dann nach Essen, dann zurück nach Elberfeld, erst zum Geschäft und dann nach Hause. Er war über alles informiert, das war das Geschäft.“
Sowohl das Bettengeschäft wie auch die Fabrik sorgten bei der Familie für einen angenehmen Haushalt.

Religion

Das Elternhaus von Paul Alsberg ist kaum religiös gewesen, vielmehr super liberal. Darüber berichtet er: „Mit dem Judentum hatten meine Eltern nicht sehr viel am Hut. Jedenfalls von Seiten meines Vaters. Meine Mutter kam aus einem religiöseren Haus, auch nicht wirklich religiös, aber immerhin. Aber bei uns wurde nichts gehalten, meine Mutter ging in den Synagogenchor und hat mitgesungen, und an den Feiertagen war meine Mutter in der Synagoge. Mein Vater hatte zwar einen geerbten Sitz von meinem Großvater in der Synagoge, aber der ist nie in die Synagoge gegangen. Selbst bei der Barmitzwa von Otto, meinem Bruder, ist er nur mitgekommen um mit aufgerufen zu werden.“  Paul Alsberg wurde erst mit der Zeit religiös, durch die Ereignisse. Man suchte zu erklären, warum, weshalb, wer man eigentlich ist. Man suchte sein Judentum.

Schulzeit

Paul ist in Wuppertal auf die ‚Aue’ zur Schule gegangen. Dort machte er, wie er sagt, ziemliche unterschiedliche Erfahrungen: „Die Schule als solche war eigentlich immer sehr korrekt mir gegenüber. Wir hatten erstens einmal ursprünglich einen außerordentlichen Direktor, Dr. Zembrot. Der, als er in Pension ging, so erzählte uns der Rabbiner, der letzten Endes Mitglied des Lehrerkollegiums war, sich verabschiedete und sagte: „Und nun meine Herren, möchte ich mich von ihnen mit den Worten des alten Kulturvolkes ´Sholum Aleichem` verabschieden“. Shalom a lechem. Dazu gehörte was, das war 1934. Und dann hatten wir einen Stellvertretenden Direktor, Dr. Börger, der nicht viel anders war. Und dann kam ein neuer Direktor. Ein Dr. Gräfer, der war ursprünglich wahrscheinlich mal Lehrer gewesen und war dann, so erzählte man, Vertreter von Weinen gewesen. Jedenfalls war er äußerst korrekt. Als die Schüler meiner Klasse in irgendein Lager gingen, ich als Jude natürlich nicht, da gab er mir eine Arbeit in der Schule, und zwar bestimmte, französische Bücher durchzugehen, auf deutsche Lehnworte. Also z.B. das Wort „Hinterland“. Dafür gibt es keinen französischen Terminus und die Franzosen benutzen das deutsche Wort „Hinterland“. Und so gab es also eine Reihe von Redensarten, Worten, die im französischen geläufig waren. Und da ich sehr gut Französisch konnte, gab er mir diese Aufgabe, diese Bücher auf deutsche Worte hin zu kontrollieren, was ich sehr schön fand und sehr gut machte“.

Ein anderes Erlebnis hatte er bei seinem Deutschlehrer, Herr Besse. „Irgendwie war die Schule in mancher Hinsicht sehr korrekt. Mein Deutschlehrer war Stahlhelmer. Nicht Nazi aber Stahlhelmer. Das war kein so großer Unterschied, aber immerhin. Und er gab uns ein Aufsatzthema, in der Schule, in einer Klassenarbeit: „Sind sie für Italien oder für Abessinien“. Das während des Abessinisch-Italienischen Krieges. Ich meine es ist ja unglaublich, solch ein Thema zu wählen, aber wahrscheinlich war das von den Nazis mehr oder weniger so vorgeschlagen. Ich habe natürlich einen Aufsatz geschrieben, dass ich für Abessinien bin. Als ich nach Hause kam, habe ich meinem Vater von diesem Aufsatz erzählt. Er sagte: „Paul mach dir keine Sorgen, wenn sich dich von der Schule schmeißen sollten, werden wir es auf einer anderen Schule versuchen. Und wenn der Aufsatz gut ist, vielleicht werden sie dich gar nicht von der Schule schmeißen“. Also, etwa eine Woche später kam der Lehrer wieder zurück mit den ganzen Heften und hat gesagt: „Die ganze Klasse hat mich enttäuscht. Nur zwei Schüler haben eine vernünftige Antwort gegeben, Eberhard von Mallinkrodt und Paul Alsberg. Eberhard war für Italien und er hat einen Aufsatz geschrieben, den ich leider nur mit gut minus bewerten konnte. Paul Alsberg hat einen Aufsatz geschrieben, den ich mit sehr gut benoten konnte“. Also war alles wieder in Ordnung. Aber ich erzähle das in Ehren von Dr. Besse, der Deutschlehrer, der uns diese Aufgabe stellte. Diesen selben Dr. Besse traf ich wieder, wenige Jahre nach dem Krieg. Ich wohnte nicht in Wuppertal. Der Wall war ziemlich zerstört, aber am Abend ging ich noch über den Wall spazieren, bevor ich mit der Eisenbahn nach Düsseldorf fuhr. Da sah ich einen Herrn, der mich in seinem Gang ungeheuerlich an Dr. Besse erinnerte. Da bin ich ihm etwas nachgegangen, er blieb vor einem Schaufenster stehen, um sich etwas anzusehen. Und dann stellte ich mich neben ihn und sagte ganz leise: „Dr. Besse?“ Kerzengerade dreht er sich um zu mir, „ja bitte“? Und da habe ich gesagt: „Paul Alsberg, ich war Schüler von ihnen“. Da sah er mich von oben bis unten an und sagte: „Ja, mich hat man vom Dienst suspendiert. Man hat geglaubt ich hätte jeden Morgen einen Juden zum Frühstück verspeist“. Da habe ich mich umgedreht und bin zur Eisenbahn gegangen. Das war dieser Dr. Besse. Das war für mich wirklich ein Schock. Der Mann war vollkommen anständig als mein Lehrer, hätte man da nicht etwas anderes erwartet? Ein verbitterter Nazi. Gut, die Entwicklung lag vielleicht nahe, vom Deutschnationalem zum verbitterten Nazi.“

Obwohl, wie Paul Alsberg berichtet, damals so ziemlich alles antisemitisch war und man sich wunderte, wenn etwas nicht antisemitisch war, war er in seiner Klasse fest konsolidiert. „Ich bin in der Schule nicht so angefeindet worden. Ich bin in der Schule natürlich, ich muss dass auch sagen, ich war der kleinste der gesamten Schule bis zur Quarta. Und natürlich wurde ich hier und da angerempelt und verhauen. Als ich dann zuhause sagte, dass ich mich wehren müsste und nicht kann, weil ich so klein bin, hat mein Vater gesagt: „ach, da gibt es was“ und hat mir Jojitschu Unterricht geben lassen. Und das nächste Mal als mich jemand anbaggerte, bevor er sich noch versah, lag er schon auf der Erde. Und danach bin ich immer in Ruhe gelassen worden.

Ein besonderes Erlebnis hatte ich mit meinem Großvetter, Wolfgang Weil. Sein Vater war ein Bruder meiner Großmutter. Dieser Vater wohnte in Elberfeld, hieß Bernhard Weil und war ein angesehener Anwalt gewesen, war dann jedoch durch einen Schlaganfall gelähmt. Ich habe ihn noch sehr gut gekannt. Er hatte eine Christin geheiratet, eine sehr hübsche Frau. Er muss sich offenbar in diese hübsche Frau verliebt haben und hat mir ihr ein Kind bekommen. Dieser Sohn war zwei Jahre jünger als ich und ging in die selbe Schule. Eines Tages erschien er, Wolfgang, es muss glaube ich 1934 oder sogar noch 1933 gewesen sein, mit einem großen Hakenkreuz in der Schule. Worauf ich auf ihn zuging und ihm sagte: „Schämst du dich nicht, dieses Abzeichen zu tragen mit deinem jüdischen Vater?“ Ich riss es ihm ab und warf es in den Papierkorb. Ich erinnere mich noch, wie andere um uns herumstanden und völlig schweigsam waren. Sie haben nicht gejohlt, keine Ermutigung mir, keine Ermutigung ihm, es war ein eisiges Schweigen. Das hätte eine ganz große Geschichte geben können, ich habe ein Nazi Abzeichen in den Papierkorb geworfen. Ein Hoheitszeichen. Weil ich nicht richtig fand dass ein Jude, ein Halbjude das trägt. Überlegt habe ich sicher nicht. Was mir dabei hätte passieren können weiß ich nicht. Das war nicht ganz einfach. Es war eine intuitive Zornhandlung, aber ich weiß dass es für den Jungen, der ein Mischling war, ungeheuer schwer war. Und er hat sich bitterlich bei seiner Mutter und den Schwestern meiner Großmutter beschwert, und ich bekam zuhause die größten Vorwürfe gemacht, wie ich dem armen Wolfgang das antun konnte. Also, es tut mir bis heute leid, nicht nur dieser Vorfall, sondern insgesamt. Wolfgang ist im Krieg zum Arbeitsdienst eingezogen worden, als Nichtarier. Dort muss er irgendwas gesagt haben, was für die Nazis abwertend war. Er wurde vor den Volksgerichtshof gestellt und während er noch im Gefängnis saß wurde dieses von den Amerikaner bombardiert und er ist ums Leben gekommen.“

Nachdem Paul Alsberg mit 18 die Unterprima beendet hatte, hätte er eigentlich noch die Oberprima machen müssen. Da die Schulzeit jedoch verkürzt wurde, stellte man den Schülern frei sich zum Abitur zu melden. Wer die gewünschte Leistung erbrachte, bekam das Abitur, alle anderen mussten wiederholen. Paul Alsberg gehörte zu denen, welche die Leistung erbrachten. Darüber schildert er: „ Als ich mein Abitur machte, habe ich meinem Geschichtslehrer vorgeschlagen, ich wollte mein Abitur über jüdische Geschichte machen. Da hat er gesagt, „Nein, lassen sie das. Das wird nur zu Komplikationen führen. Der Schulrat aus Bonn wird kommen, also besser nicht. Nehmen sie was neutrales, nehmen sie z.B. amerikanische Geschichte“. Ich habe ihn böse angeguckt und er sagte: „Ich gebe Ihnen ein Buch, nach dem sie sich vorbereiten können“. OK, habe ich also gemacht. Ein Freund von mir, der eine Klasse unter mir war, erzählte mir später folgendes. Als der Geschichtslehrer, nicht meiner sonder seiner, in die Klasse kam, nach meinem Abitur, hat er gesagt: „Ich war gerade in einem beispiellos beispielhaften Abitur in Geschichte“. Anscheinend hat das damals großen Eindruck gemacht.“

„In meinen Schulferien war ich ziemlich häufig bei meiner Großmutter in Erkelenz. Dort lebte der Bruder meiner Mutter mit seiner Familie. Und da gab es drei Jungen, Alexander, Alfred und Otto, der älteste war jünger als ich, aber immerhin, da waren drei Jungens, die ich sehr gern hatte. Und mit denen ich in Wirklichkeit groß geworden bin. Weißt du, der mittlere von diesen dreien lebte heute in Jerusalem, in Meah Sherim und ist ganz fromm, mit Vollbart und allem. Und der älteste, ich weiß nicht wenn ich sage er hat sich taufen lassen, ob das noch stimmt, dass weiß ich nicht. Und der kleinste ist nun leider gestorben in Australien, hat aber eine Tochter hier im Land, die verheiratet ist und süße Kinder hat.
Ich habe natürlich Cousinen und Vettern gehabt, sowohl von Seiten meines Vaters wie von Seiten meiner Mutter. Da ich immer zu den jüngeren gehörte sind die alle älter als ich, sogar viel älter. Ich habe noch zwei Cousinen, die Töchter von Schwestern meines Vaters sind. Die eine heiß Evna und lebt in Schweden, die andere  Friedel und lebt in Los Angeles.“

Jugendbewegungen

Neben der Schule besuchte Paul zunächst die nicht-zionistische jüdische Pfadfinderbewegung „Kameraden“, die sich jedoch etwa 1932 auflöst. Danach schließt er sich der linksgerichteten zionistischen Jugendgruppe Britt HaOlim an, die er jedoch auch bald wieder verlässt. Dazu erzählt er: „Ich war schon mit 13 Jahren, also 32, in einer zionistischen Bewegung. Allerdings habe ich sie sehr bald verlassen, weil sie rein gesellschaftlich nicht zu mir passte. Das waren, jetzt komm ich wieder auf das hässliche Wort, Ostjuden. Es war außerdem eine politisch sehr, sehr linke Gruppe, mit ‚Coeducation’ von Jungen und Mädchen, was mich an sich nicht gestört hat. Aber wenn man auf einem Lager ist, dann gemeinsam zu brausen, zu duschen, dass war mir zuviel. Mich hat es gestört, es war nicht meine Art. Und als wir nach der Fahrt wieder zuhause waren, das war gerade Januar 1933, bin ich aus der zionistischen Jugendgruppe ausgetreten.“ Später trat er noch der Buber nahe stehenden Gruppe der Werkleute bei.

Schulfreund

„Ich hatte einen Schulfreund, Hennig Glanz, der mir immer die Treue hielt. Er wohnte sehr nah bei mir, in der Victoriastraße 24. Wir waren vielleicht 6 Häuser auseinander. Hennig und ich sind jeden Tag gemeinsam zur Schule gegangen. Wir waren zwar nicht auf der Vorschule zusammen, aber auf dem Realgymnasium. Hennig hatte einen Sport, er ritt. Reiten war sein Sport. Reiten war damals ein sehr aristokratischer Sport, aber er kam auch aus einer adeligen Familie. Einfache Leute konnten sich gar nicht leisten Pferde zu halten oder in einer Reitschule zu reiten. Er hat mich dazu gebracht, dass ich mit ihm Reiten lerne. Den einzigen Sport, den ich je gemacht habe, außer zu Fuß zu gehen. Nun, wir sind in einer Reitschule in Barmen zusammen geritten. Sein Schwager, ein Hauptmann, ist mit Hennig und mir sogar ausgeritten. Das ganze ist gewesen 1935/36. Stell man sich das mal vor. Das war ein sehr mutiger Mann, der kein Nazi war. Kein Antisemit. Er war wahrscheinlich so Deutschnational, der er nicht mehr Nazi sein brauchte. Der Bruder von Hennig war damals allerdings schon Nazi. Wie auch immer, ich bin sehr gerne mit ihm zusammen gewesen, sehr gerne mit ihm geritten.

Rabbinerseminar

Nach seiner reichhaltigen Zeit in der Schule und dem vorzeitig beendeten Abitur, war für Paul Alsberg längst nicht geklärt was nun folgen sollte. Seine beantragte Ausreise war noch nicht genehmigt. Er schildert: „Nun, da stand ich dann plötzlich mit meinem weniger gewaschenen Hals und wusste nicht was ich mit mir anstellen soll. Ich ging zu Doktor Philipp, unserem Rabbiner, um mich zu beraten. Mein Vater war kurz vorher im Oktober 36 gestorben, und Philipp sagte mir, gehen Sie am besten nach Breslau und lernen sie dort die Dinge, die Sie nicht bei mir gelernt haben. Das hilft ihnen sowohl in Jerusalem, wie auch überhaupt im Land.“

Zwei Tage nachdem Paul Alsberg Herrn Doktor Philipp aufgesucht hatte, besuchte auch Betty Keschner, später Betty Alsberg, den Rabbiner. „Sie kam vollkommen unabhängig von mir und unser Rabbiner gab ihr den selben Rat. Betty wollte aufs Lehrerseminar in Jerusalem gehen, worauf er vorschlug, die Hebräischkurse in Breslau zu besuchen, um sich darauf vorzubereiten. „Sprechen Sie mit Paul Alsberg, dem hab ich auch schon diesen Rat gegeben“. Und so sind wir beide dann im April gemeinsam, nicht gleichzeitig, nach Breslau gefahren. Ich bin einen Tag früher gefahren, weil ich nicht mit Bettys Mutter 13 Stunden in einem Coupe sitzen wollte. Bettys Mutter kam mit, um ihr ein Zimmer zu suchen. Also, kurz und gut, zur Strafe habe ich später mit meinen Schwiegereltern in einer Wohnung gewohnt, jahrelang.
Wir sind jedenfalls nach Breslau gekommen und da haben wir uns richtig kennen gelernt, obwohl wir beide aus Elberfeld waren. Wir kannten uns nicht, wir waren in verschiedenen Bewegungen. Betty war in der Gruppe HaBonin, bei den ‚Aufbauenden’ und ich gehörte zu den Werkleuten. Das waren zwei verschiedene zionistischen Jugendströmungen.“
Betty Alsberg wurde 1920 als Betty Keschner in Hattingen geboren, zog aber bald nach Wuppertal, wo ihrem Vater ein Möbelgeschäft gehörte.

„In Breslau haben wir, muss ich sagen, die Zeit sehr gut zum Lernen ausgenutzt, viel gelernt und intensiv. Ich nahm mir noch einen Privatlehrer, einen jungen polnischen Rabbiner, der in Breslau auf dem Rabbinerseminar seine westliche ‚Hasmacha’ machen wollte und gleichzeitig an der Universität promovierte. In  Mathematik und Philosophie. Als Ausländer konnte er auf die Universität kommen, während es mir bereits als Nichtarier versagt blieb. Wir sind 1937 nach Breslau, haben dort 3 ½ Semester studiert.“

Wie Betty Keschner ging Paul Alsberg jedoch keineswegs nach Breslau mit der Absicht, Rabbiner zu werden, viel mehr wollte er sein Wissen über die hebräische Sprache und das Judentum erweitern. Wie er dazu kam stellt er folgendermaßen dar:
„Der Umschwung zum Jude sein ist gekommen, als wir uns ausgeschlossen fühlten von der Allgemeinheit und wir uns dann überlegen mussten, wieso sind wir anders. Und jeder konnte das natürlich auf eine andere Weise machen. Ich habe es gemacht indem ich Geschichte gelernt habe. Ich habe mich hingesetzt und jüdische Geschichte gelernt. Im Bücherschrank meiner Eltern gab es die schöne dreibändige Ausgabe von Grätz, jüdische Geschichte. Die ist ausgezeichnet mit einem kleinen wissenschaftlichen Apparat. Das nennt sich die ‚Volkstümliche Ausgabe’. Im Unterschied zu der, ich glaube 10 oder 12 bändigen wissenschaftlichen Ausgabe. Diese Ausgabe habe ich durchgearbeitet und dann habe ich natürlich andere jüdische Geschichtsbücher gelesen. Ich hatte, ich würde sagen, gute jüdische Geschichtsbildung. Und da Grätz eigentlich der Erste war, der jüdische Geschichte auch national gesehen hat, hat das natürlich auch einen Einfluss gehabt.
Aber das hat mir im Jude sein natürlich den Halt gegeben und das war auch sehr notwendig. Denn wenn man plötzlich herausgetreten wir aus seinem eigenen kulturellen Leben weil man sagt „du bist anders“, dann muss man sich auf das eigene besinnen. Und genau so ist es mir ergangen, dadurch wollte ich ein voller Jude sein.

Und als mir mein Rabbiner vorschlug, mich vorzubereiten während der Wartezeit auf Jerusalem, und nach Breslau aufs Rabbinerseminar zu gehen, war das für mich kein schlechter Vorschlag. Bei der Aufnahme auf das Rabbinerseminar wurde mir gesagt, „du musst dich verpflichten, mit Handschlag, dass du ein nach außen hin, wohlgemerkt, ein traditionelles Leben führst. Was du zuhause in deinen vier Wänden machst, dass geht uns nichts an, aber nach außen hin musst du dich dem Rabbinerseminar entsprechend würdig verhalten.“ Das ist etwas, was es kaum in einer anderen Religion gibt, dass man diesen Unterschied macht. Aber das ist ein Begriff im Judentum, was man nicht tun soll, auf der Straße, draußen, es könnte so aussehen als ob. Also da musste ich mich zu verpflichten.“

Betty Keschner und Paul Alsberg besuchten in Breslau die selbe Klasse. Darüber erzählt sie heute: „ Wir fingen erstmal an hebräisch zu lernen. Damit kam es auch, dass man die Bibel in hebräisch las. Wir haben alles gelernt, über Mischna und Gemara und diese Dinge, wir haben doch davon keine Ahnung gehabt. Und der Paul war sehr wissbegierig. Er nahm sich einen polnischen Kollegen namens Shlomo als Privatlehrer, mit dem ich eigentlich damals ein bisschen befreundet war. Ich hatte auch einen Hang für etwas ältere, nicht für so einen „kleinen Jungen“. Aber Paul machte immer auf uns Eindruck, weil er immer so wahnsinnig viel konnte. Paul hat bei ihm nebenher gelernt, was ihn sehr, sehr beeinflusst hat. Natürlich auch mich. Shlomo war streng orthodox und so wurden auch wir hm, fromm. Es war auch schön auf diesem Seminar, die Synagoge auf dem Seminar war so kultiviert und schön. Das hat uns was gegeben. So haben wir auch unseren Eltern geschrieben, dass wir Pessach in den Ferien nicht nach Hause kommen, weil wir nicht koscher essen können. Denn die Haushalte meiner und Pauls Eltern waren nicht koscher. Worauf hin meine Eltern und auch Pauls Mutter sofort reagierten, „du kannst nach Hause kommen, wir schaffen alles neu an“ war die Antwort. Für meine Eltern war es auch praktisch, weil sie mir einen Lift schicken wollten, mit meiner Aussteuer. Ich wartete ja darauf mein Zertifikat zu bekommen um in Jerusalem am Lehrerseminar zu studieren. Dafür kaufte meine Mutter in der Zwischenzeit alles neu ein, ein ganzes Zimmer, mit Möbeln, mit Geschirr, Bettwäsche und allem was man brauchte. Ein ganzer Lift. Pauls Mutter kaufte auch alles neu. Pauls Bruder war deswegen sehr sauer. Er konnte diese Umstellung vom Paul nicht vertragen. Aber er hat die Lesung am Pessach aus der Hagada über sich ergehen lassen und alles was man dabei so macht. In Deutschland war es üblich, dass man zweimal diesen Tag begeht, dass war ihm schon zuviel.
Meine Eltern konnten das nicht mehr, wir haben zwar immer Seder gehalten, aber nicht einen koscheren Seder. Ich hatte einen Großvater, der zu Besuch kam, wir waren dann aber über diese Tage in Wiesbaden in einem koscheren Restaurant. So war unser Umschwung zur Orthodoxie.“

Der „Umschwung zur Orthodoxie“ hatte für Paul Alsberg auch noch andere Konsequenzen. Er berichtet: „Nachdem ich in Breslau auf dem Rabbinerseminar war, wollte ich natürlich nicht mehr in Wuppertal in die Genügsamkeitsstraße in die Orgelsynagoge gehen. Denn eine Orgelsynagoge ist liberal und ist ein Verstoß gegen das Religionsgesetz, so sagt man. Und da bin ich schon in Wuppertal in die Luisenstraße gegangen. Ich fühlte mich sehr ausgezeichnet, dass man mich in diesem ostjüdischen-orthodoxen Kreis als gleichwertig empfunden und aufgenommen hat. Und nicht nur dass, sondern dass man mir sogar angetragen hat, zwischen den Nachmittag und Abendgebet am Samstag vor der Gemeinde zu lernen, dass heißt vorzutragen. Ich habe mich vorbereitet und dann klappte es. Sie müssen sich vorstellen, dieser jüdisch vollkommen ungebildete Junge kommt da nach einen halben Jahr aus Breslau zurück und stellt sich vor die Gemeinde hin, in diesen ostjüdischen Kreis und macht das. Aber die haben das gerne gehört, waren sehr zufrieden und dass habe ich dann immer gemacht wenn ich in Elberfeld war. In der Luisenstraße. Der Rabbi, Herr Frank, der die Gemeinde geleitet hat, war ja zwar auch kein Ostjude, aber er war ganz streng orthodox. Und die Ostjuden hatten mehr Jüdischkeit mitgebracht von hause aus. Ich habe ja nichts mitgebracht, während das bei denen selbstverständlich war. Es gibt sehr viele Dinge bei denen ich bis heute diesen Unterschied spüre, dass ich im Grunde keine jüdische Erziehung habe. Zwar habe ich oft viel mehr gelernt als die, aber dieses Gefühl, es ist ein Teil von mir, das habe ich dort nie bekommen. Es war immer etwas das ich gelernt habe. Das ist ein Unterschied.“

Zeit der Auswanderung (ab 1938)

Die politischen Veränderungen zogen auch an den Alsbergs nicht unbeachtet vorüber. Hierzu berichtet Paul Alsberg: „Meine Eltern haben eigentlich ab 1933 die Auswanderung ihrer Kinder richtig geplant.
Sie hatten schon immer sehr viel Wert darauf gelegt, dass wir Kinder Fremdsprachen lernen. Nachdem Hitler natürlich dafür gesorgt hat, dass wir auswandern, waren bei uns Fremdsprachen also die erste Pforte.
„Meine Schwester, Lore war schon vor Hitler in Frankreich gewesen um Französisch zu sprechen. Sie ist dann, sie war gerade verlobt, 1933 als Gouvernante nach Italien, nach Turin gegangen. Otto ging 1933 nach Frankreich. Er war gerade 16 ½ Jahre alt als er auswanderte, um in einer Radiofabrik zu lernen. Und ich hatte schon seit 1933 eine franz. Privatlehrerin, jede Woche zweimal. Dann bekam ich außerdem, weil meine Schwester nach Italien ging, einen Privatlehrer für Italienisch. Ich habe dann Lore jedes Mal wenn Ferien waren besucht, Minimum drei, vier mal im Jahr. Und da konnte ich jedes Mal etwas Geld mitnehmen, das war natürlich die Hauptsache für meine Schwester und meinen Schwager. Aber ich profitierte davon, dass ich immer als ich in Italien war mein Italienisch etwas vervollkommnete.
Mein Schwager, Carl Engel, kam erst später nach, um dann dort noch einmal zu studieren. Das war ganz großes Glück, dass er in Italien studierte, dass wurde noch anerkannt in den Britischen Kronkolonien, da konnte er sich dann als Arzt niederlassen. Und so ist er dann, als die Italiener zunächst die deutschen Juden des Landes verwiesen, mit seiner Frau, meiner Schwester, nach Singapur gegangen. Und meine Schwester wurde dann von Singapur aus, als die Japaner Singapur eroberten, nach Bombay evakuiert. Carl ging in japanische Kriegsgefangenschaft. Die Deutsche Staatsangehörigkeit musste man ziemlich verschweigen, sonst hätte man sie nach Deutschland überstellt. In einem Japanischen Kriegsgefangenenlager, dass war schon schlimm genug. Aber als Arzt hat er es gut gehabt. Er hat sich als Arzt spezialisiert auf die Therapie durch Vitamine, dass war damals ganz neu. Er hat jedenfalls die japanische Kriegsgefangenschaft überlebt.

Mein Bruder ist sehr bald, als er keine Arbeitserlaubnis bekam, zurückgekommen nach Deutschland. Und dann von Deutschland, mit einer Ausbildung in Hamburg zur Dekoration, nach Palästina ausgewandet, als Kapitalist, wie man es so schön nannte. Das war unser ganzes Glück, wie sich später herausstellen sollte.“

Buchenwald

Am 10. November 1938 wurde das Breslauer Seminar geschlossen.  Betty Keschner, Paul Alsberg und ein Freund, Ludwig Schüfftan wurden auf der Straße angehalten, die beiden Jungen wurden verhaftet.

„Wir sind am 10. November 1938, verhaftet worden, Ludwig, ein Freund von mir, und ich. Das Ziel lautete: Buchenwald. Auf dieser Fahrt hatte ich meinen Lebenswillen fast verloren. Mir ist der Gedanke durch den Kopf gegangen, soll ich nicht lieber durch die Türe ins Freie springen und mich bei der Flucht erschießen lassen? Das ging mir durch den Kopf. Aber dadurch dass wir zu zweit waren, habe ich das nicht getan. Ich hatte mir gedacht, man kommt sowieso nicht raus aus Buchenwald, wofür also noch das ganze Leiden. Man hatte bereits eine Vorstellung von Buchenwald, nur genau wusste man es natürlich nicht.

Nachdem wir vielleicht zehn Tage in Buchenwald waren, wurden wir, weil wir jünger waren, ausgewählt, genommen und in die Sträflingskleidung eingekleidet. Ich muss sagen, ich hatte die Einkleidung als Wohltat empfunden. Man muss sich vorstellen, man war in seinen eigenen Kleidern von der Straße weg verhaftet worden und fast alle hatten während dieser Zeit schreckliche Durchfälle bekommen. Trotzdem war man in seiner dreckigen, wirklich durch und durch dreckigen und stinkigen Kleidung. Aber das war genau das was die Nazis wollten. Als ich dann frische Unterwäsche bekam, mich abbrausen konnte, war das eine Wohltat für mich. Da wusste ich aber noch nichts von dem Steinbruch.  Wir kamen nämlich in das richtiger Lager Buchenwald. Die fünf Judenbaracken waren getrennt vom richtigen Lager. An dem ersten Tag, an dem wir eingekleidet waren, wurden wir auch zur Arbeit eingesetzt. Wir mussten in den Steinbruch marschieren zur Schwerarbeit. Diese Arbeit bestand darin riesige Blöcke im Laufschritt von einem Platz zu einem anderen zu tragen. Alles war immer im Laufschritt. Ich war am ersten Tag so erledigt von dieser Arbeit, dass ich mir selbst sagte: „das halte ich nur wenige Tage durch“. Viele Menschen haben es auch nicht durchgehalten. Ich glaube, dass war die Form, in der man am aller schnellsten die Menschen vernichtete. Was da gebaut werden sollte, weiß ich nicht. Es waren riesige Steinblöcke, die man auf seinem Rücken trug. Mein Freund erzählte mir später, dass einer der Nazis sah, wie er nicht mehr konnte, und ihm den Stein abnahm und sagte: „Ruh dich aus, dann wirst du ihn weiter tragen“. Also ein humaner SS-Mann. Nach diesem einen einzigen Tag im Steinbruch, kam das Kommando, `die Novemberjuden dürfen nicht zur Arbeit eingesetzt werden’. Man wollte uns also nicht so vernichten. Dann blieben wir noch ein paar Tage eingekleidet und kamen dann wieder zurück zu den Judenbaracken. Dort bekamen wir die alte Kleidung wieder, bis auf die verschmutzten Untersachen, die waren wahrscheinlich weggeworfen worden. Wir bekamen andere.
Ich weiss das ich lange Jahre ein paar Zettel bei mir hatte, irgendwo, mit Datum, die ersten Tage im Lager. Ich weiß noch wie ich drauf geschrieben hatte „völlig voll geschissen“. Das war schrecklich. Das war das System, zuerst muss der Mensch völlig erniedrigt werden, er muss seinen Selbstrespekt verlieren, seine Würde, er muss wirklich ein nicht sich selbst achtendes und von anderen geachtetes Wesen werden. Das ist das System gewesen und dass war es bis zum Schluss. Dass habe ich miterlebt.

Ich wurde in Buchenwald bald krank, bekam Diphtherie und habe in einem Notlazarett gelegen. Das war eine Isolation, sie hatten Angst vor einer Epidemie, und das war mein Glück. In diesem Notlazarett, stellen sie sich vor, bekam ich so eine Tasse, das sollte Kaffee sein, aber bis ich es an den Mund setzte war eine Eisschicht darauf. Es war wahnsinnig kalt, ein furchtbar kalter Winter. Aber im Konzentrationslager hat  mich die kommunistische Zelle mit geriebenen Äpfeln ernährt, bei allen Schluckschwierigkeiten die ich mit der Diphtherie hatte. Die Nazis haben ein Serum aus Weimar kommen lassen. Da stellt man sich das mal vor, die haben da nicht einfach den Juden sterben lassen und verscharrt, sondern sie haben ein Serum aus Weimar kommen lassen. Damals war man nicht daran interessiert, dass die Menschen unbedingt zugrunde gehen. Man wollte durch diese Verhaftungsaktion von 30000 Menschen, eigentlich nur die schnelle Auswanderung noch mehr beschleunigen. Bis zum 10. November 38 plante, wer eben auswandern konnte und wanderte dann aus. Nach dem 10. November plante man nicht mehr. Man überlegte nur noch, zu wem kann ich gehen um ein Visum zu bekommen. Das war eine Flucht, das war keine Auswanderung mehr. Wir als Zionisten wussten natürlich, wo wir hin wollten.

Als ich jedenfalls wieder nach so und so vielen Tagen, ich glaube 10, aufstehen konnte, kam ich wieder zurück in das richtige, in das so genannte Judenlager und da sagte einer meiner Freunde, ein Kollege aus Breslau vom Seminar: „Du bist doch schon zur Entlassung aufgerufen!“ Ich sagte: „also ich habe keine Ahnung, ich war doch im Lazarett“. Und darauf sagt er: „komm wir gehen zu dem Posten.“ Und dieser Kollege hat dann richtig salutiert vor dem SS Mann, der mich von oben bis unten ansah. Ich muss schrecklich ausgesehen haben, ich war ja noch sehr jung und auch von der Statur sehr klein. Und dann fragte er mich, „wie alt bist du denn, Junge“? Und da hab ich gesagt, „18“. Da hat er mich noch mal gemustert. Und dann hat er gesagt, „komm, wir gehen zur Schreibstube“. Und da hat man wirklich festgestellt, dass ich aufgerufen war zu Entlassung. Das war am 28. Dezember, also etwa sieben Wochen nach der Verhaftung und drei Wochen nach Entlassung von meinem Freund Ludwig. Man hat mir eine Fahrkarte nach Breslau gegeben. Und dann bin ich nach Breslau gefahren, und dort habe ich mich gemeldet und da sagte man mir, „falsch, du musst nach Wuppertal fahren“. Und dann gab man mir eine neue Karte, von Breslau nach Wuppertal. Nun müssen sie sich vorstellen, von Weimar, Buchenwald, nach Breslau, ist ein Fahrt von glaube ich 6 Stunden. Von Breslau nach Wuppertal ist eine Fahrt von 13 Stunden. So kam ich dann in Wuppertal an, ich war sehr geschwächt, sowohl von meiner Krankheit, wie auch von diesen ganzen Strapazen.“

Die Auswanderung

Betty Keshner wurde am 10. November nicht zusammen mit den Männern verhaftet. Man hat zunächst keine Frauen festgenommen. Sie begann sofort mit dem Versuch, Paul Alsberg frei zu bekommen. „Dann fing mein Kampf mit der Gestapo an. Ich ging zur Gestapo, fragte und hörte dann, dass Leute, die schon ihre Fahrkarten für die Auswanderung  hatten und alles erledigt hatten, manchmal wieder zurückbeordert wurden und wegfahren konnten. Daraufhin bombardierte ich seine Mutter in Elberfeld und sagte, „man muss unbedingt die Auswanderung jetzt betreiben,  man muss alles tun, dass er rauskommt aus Buchenwald“. An dem Abend, wo er verhaftet wurde, ich weiß nicht, irgendwie hat mir Gott das eingegeben, stand ich vor einem Telefonhäuschen und habe versucht zu telefonieren, wurde aber nicht mehr verbunden mit seiner Mutter. Und da bin ich zur Post gelaufen und habe an seinen Bruder in Haifa ein Telegramm geschickt: „Paul nicht zu Hause, schicke Zertifikat!“ Er hat sich in den Bus gesetzt, wie er das Telegramm bekommen hat, hat alles Geld, was er hatte, eingesteckt, ist zur Universität gefahren und hat gesagt: „Ich brauche ein Zertifikat, mein Bruder ist nicht mehr zu Hause!“ Das hat natürlich eine Zeitlang gedauert, bis das Zertifikat kam. Es waren ganz schreckliche Wochen, denn man hat ja immer vor der Gestapo gestanden, hat gewartet, ob man wieder was hört. Und seine Mutter ist dann wirklich nach Berlin gekommen und wir haben dieses Schriftstück für die Gestapo bekommen. Und aufgrund dessen ist er raus gekommen, aus Buchenwald.“
„Hätten Betty und meine Mutter unsere Ausreise nicht schon vorbereitet, wäre ich gar nicht raus gekommen. Man kam nur aus dem KZ wenn man vorweisen konnte, dass alles erledigt ist und die Karte zur Auswanderung in der Tasche. Und so bin ich dann also heraus gekommen mit einem Studentenzertifikat für Jerusalem und mit einer Fahrkarte auf einem sehr schönen, italienischem Schiff von Venedig nach Haifa. Und ich glaube Betty und ich haben uns kaum hinterher noch einmal getrennt. Betty hatte für sich ein Besuchsvisum bekommen beim englischen Konsul, das war etwas ganz außergewöhnliches. Der englische Konsul war den Flüchtlingen sehr, sehr gut gesonnen und trotz Verbot hat er Besuchvisen, Touristenvisen vergeben, für eine Garantie, dass man zurückkommt. 800 Mark musste man hinterlegen, die dann verloren waren, wenn man nicht zurückkommt.“

Leben in Palästina

„Angst hatte man sicher. Bevor wir in Haifa angekommen sind waren wir in Alexandrien. Als ich das sah, ist mir schwarz vor den Augen geworden. Ich habe mir gesagt, in solch einem Land soll ich nun leben? Um Gottes Willen. Und dieser Druck ging nicht so schnell weg. Ich war die ersten drei Wochen bei meinem Bruder in Haifa. Bei dem habe ich mich von diesem ersten Schock in Alexandrien erholt. Aber als ich dann nach drei, fast vier Wochen nach Jerusalem fuhr, ging es mir nicht viel besser. Ich traf Betty zufällig auf der Straße, es regnete, es war Anfang März, es war kalt und ungemütlich. Betty kam mir entgegen, durch Zufall, und wir sind in eine ganz billige Teestube gegangen. Da bekam man für fünf Miel einen Tee mit einem Stück Kuchen. Da haben wir uns hingesetzt und haben Tee getrunken. Und dann hat Betty mir gesagt: „also, ich wohne ganz hier in der Nähe, komm ich will es dir zeigen“. Da hat sie mir das gezeigt und ich habe gesagt, „Betty, so kann ich nicht leben“. Dann hat Betty mir erklärt, so ist es, es gibt nichts anderes. Und da habe ich gefragt, „wo leben die Leute, die etwas Geld haben“? „Ach“, hat Betty gesagt, „dass kannst du dir gar nicht leisten. Das ist in Rechavia“. Da hab ich gesagt, dann zeig mir mal wo Rechavia ist. Also sind wir am nächsten Tag nach Rechavia gegangen. Die eine Nacht habe ich noch im so genannten Beit Holim geschlafen. Dort haben die Einwanderer zuerst einmal ein Bett bekommen. In Rechavia hat mir die Gegend schon etwas menschlicher ausgesehen. Und da habe ich gefragt, was die Zimmer hier kosten. Betty hat gesagt, „das kannst du nicht bezahlen“. Wir wussten ja, wir bekamen jeden Monat von unserem Geld vier Pfund pro Person ausgezahlt. Das musste für Miete, Essen und alles andere reichen. Und zusammen wohnen, dass wäre uns nicht in den Sinn gekommen, obwohl wir uns damals schon absolut verlobt fühlten. Wenn man heute sagt, man ist verlobt, dann geht man zusammen irgendwo hin, aber das konnte man damals noch nicht. Dafür waren wir zu europäisch, im früheren Sinne. Und dann sahen wir auf einem Balkon einen Zettel, Zimmer zu vermieten. Da bin ich rein gegangen, ach das war ein kleiner Hof und dann ging es in drei Eingänge. Und in einem Eingang spielte ein Kind, ein kleines süßes Mädchen von etwa drei Jahren auf einem Fahrrad. Goldig. Und dann kam die Mutter von dem Kind und sie fragte ich nach dem Zimmer. Die Mutter war hochschwanger und hat sich gewundert, wer bei ihr wohnen will wo man bald Babygeschrei hört. Mich hat das nicht gestört. Ich habe Kinder immer derart gern gehabt, dass das überhaupt kein Problem war. Dort habe ich dann ein Zimmer gemietet für 1,8 Pfund, etwa also die Hälfte meines Bugdes. Aber ich wusste, mein alter Freund Ludwig, der noch in Tel Aviv war, würde ja die Hälfte mitbezahlen. So war ich noch unter einem Pfund Miete und das war in Ordnung. Ich habe mich nur verrechnet gehabt, denn er hat den ersten Monat nicht mitgezahlt. Aber das habe ich weder ihm, noch seiner Familie je vorgehalten. Er hatte seine Großmutter und zwei Tanten in Tel Aviv, seine Mutter war nicht mehr aus Deutschland raus gekommen. Der Vater war Rabbiner in Erfurt gewesen. Er war wirklich ein sehr guter Freund von uns, der leider Gottes umgekommen ist auf einer Fahrt nach Ägypten. Terroristen haben auf den Autobus geschossen und er ist dabei getötet worden. Er war Geologe.

Aber gut, ich habe dieses Zimmer gemietet und das war ein vernünftiges Zimmer. Primitiv, mit einer Toilette, einem Badezimmer und einer Küche gemeinsam mit der Familie. Hören sie zu, so primitiv alles war, damit konnte man zurechtkommen. Zu wohnen, in einem Viertel, in dem man sein Wasser aus der Zisterne sich heraufholt, und kein Klo hat, nur so einem Türkisches draußen. Betty wartete ja bis ihr Lift ankam, aber der kam nicht, er war in Hamburg versteigert worden. Bei Kriegsausbruch hat Hitler alle Schiffe zurückgerufen, darunter war auch Bettys Lift, der schon auf dem Schiff war. Später hat man die Versteigerungsakte gefunden und sie wurde entschädigt.

Jedenfalls war das erste Jahr wahnsinnig schwer für uns alle. Die ersten Einordnungen waren scheußlich schwer. Ich meine, mir ist es leichter gefallen, weil ich einen Bruder in Haifa hatte. Und wenn ich kein Geld hatte, wenn ich zu viele Unkosten für Ärzte hatte, denn ich bin im ersten Jahr doch schrecklich krank gewesen, dann hat mein Bruder mir geholfen. Mein Bruder hat mir sogar immer geholfen.“

In der Anfangsphase in Palästina hat man sich, wie Paul Alsberg erzählt, fast nur in seinem eigenen Kreis, mit anderen deutschen Einwanderern aufgehalten. Er erklärt: „In der selber Straße in der ich mein Zimmer hatte, mit meinem Freund, wohnten noch 4 oder 5 Freunde aus Breslau, die mit uns zusammenstudiert haben. Samstag Nachmittags kam man dann bei mir zusammen, mein Zimmer war das Zentrum, weil wir quasi ein Ehepaar waren. Bettys Mutter hat immer Pakete geschickt und dann gab es immer Gutes bei uns. Also wir waren immer für die anderen mit da. Und das war ein netter Kreis. Aber wir haben wirklich versäumt, durch den engen Kontakt mit den Breslauern Studenten, einen Kontakt mit israelischen Studenten anzufangen.

Später, z.B. als ich im Prime-Minister-Office gearbeitet habe, war mir der juristische Berater bekannt. Der fiel mir auf, den kannte ich doch aus meiner Studentenzeit. Er konnte sich natürlich nicht an mich erinnern, aber wir stellten fest, dass wir zur selben Zeit studiert hatten. Man kam nicht mit anderen zusammen.
Hinzu kam, dass es bereits eine Synagogengemeinde gab, von Jeckes. Unser Rabbiner war in der Gemeinde von Dr. Willhelm, der schon vorher da war. Und der hat ihm dann die Gemeinde überlassen, so dass dann Dr. Philipp, unser früherer Rabbiner gleichzeitig unser Rabbiner in Jerusalem wurde. Dr. Wilhelm war Rabbiner in Dortmund gewesen. Also alle in der Gemeinde waren Jecken. Auch Else-Lasker-Schüler war dort.

Da kann ich eine typische Geschichte erzählen, wie sie am Jom-Kipur, dem Fasttag, in der Synagoge ein Bonbon lutschte. Und das Papier raschelte, sie war wirklich ungeniert in solchen Sachen. Und jemand, ein Junge der geholfen hat, ist zu ihr hingegangen und hat gesagt, flüsternd: „Lasker-Schüler, heute ist Jom Kipur“. Da hat sie gesagt, laut: „Stören sie mich nicht in meiner Andacht.“ Und dabei lutschte sie weiter ihre Bonbons. Das ist eine authentische Erzählung von Else-Lasker-Schüler.
Das war auch eine wirklich sehr interessante Gemeinde. Buber war auch dort und auch Professor Ernst Simon und Shalom Ben Chorim gehörten dazu. Das war die jeckische Geistesaristokratie. Aber das war alles in Deutsch und hatte wirklich Niveau“.

Universität

In Jerusalem angekommen fing Paul Alsberg an, an der hebräischen Universität zu studieren, Geschichte als Hauptfach und romanische Philologie als Nebenfach. Er erzählt, für ihn gab es nur zwei Berufsziele, ein weiters für seine Eltern: „Meine Eltern wollten das ich Zahnarzt werde. Weil man als Zahnarzt, wo man auch hin verschlagen wird, sein Brot gut verdienen kann. Ich wollte entweder Anwalt werden, dass hätte mir sehr gelegen, oder Geschichte. Geschichte ist Brotlos und Anwalt ist ein guter brotberuf. Aber natürlich mehr oder weniger, an das Land gebunden in dem man studiert. Also es ist nichts aus dem Anwaltsstudium geworden, Gott sei dank, und Gott sei dank nichts aus dem Zahnarzt.“
Betty Keschner fing in Beit HaKerem auf dem Lehrerseminar an. Dazu erzählt Paul Alsberg: „Sie fing in Beit HaKerem an und musste zuerst in Hebräisch nachmachen. Dass war nicht nur eine Frage der Sprache, sondern auch ganz andere Fächer. Dass ist hebräische Bibel, hebräische Literatur oder Mathematik in Hebräisch. Also dass ist kein Kunststück, dass Betty bei diesem Abitur nicht bestanden hat. Erstens einmal hat der Leiter ihr gesagt, spezialisiere dich auf die hebräischen Fächer, Mathe und Englisch interessieren uns nicht. Aber am Ende hat sie einkassiert. Betty hat die hebräischen Fächer bestanden, aber zu Mathe und Englisch ist sie nicht gegangen. Und darauf hat man ihr gesagt, also du musst ein Jahr länger machen. Dafür reichte aber wiederum das Geld nicht. Also hat Betty sich entschlossen, dass war eine der großartigsten Sachen, Betty hat gesagt: „ich werde Krankenschwester“. Das hat ihr genützt, aber vor allem mir genützt. Denn ich wurde ziemlich schnell in Jerusalem ganz schwer krank. Ich bin von Haus aus Allergiker, wie mein Vater. Er war schwer asthmatisch und ist an dem Asthma mit 50 Jahren gestorben. Und ich bekam ganz schwere asthmatische Anfälle. Betty hat mich wirklich dabei gerettet.
In der Universität war dass natürlich auch für mich schwierig. Ich habe dort natürlich alles in Hebräisch hören müssen, aber ich hatte ein halbes Jahr Zeit mein Sprachexamen zu machen. Ich habe einen Intensivkurs Hebräisch während der Ferienmonate Juli August mitgenommen und danach konnte ich wirklich genügend, um sowohl zu reden wie zu verstehen. Schreiben konnte ich auch, ich war ja von Breslau nicht vollkommen ohne wissen. Aber es war sehr schwierig. Das erste Studienjahr habe ich mehr oder weniger nur auf dem Papier gehabt, aber es hat mich vorbereitet, für alles andere. Und da habe ich bei einem Lehrer, der Geschichte unterrichtete, alte Geschichte, klassische Periode, bei dem habe ich richtig Hebräisch gelernt. Der hat so herrliches Hebräisch gesprochen und so einfaches. Da habe ich gehört wie man schön und einfach Hebräisch sprechen kann. Der Mann ist wirklich bis heute für mich das Vorbild. Professor Jerry Gogei. Ja, während der Professor bei dem ich promoviert habe, da bin ich lieber nicht hingegangen. Den wollte ich nur nicht sehen. Und der Professor bei dem ich meinen Master gemacht habe, der hat so Hebräisch gestottert, dass man es kaum verstehen konnte. Er kam auch aus Breslau, aber war weit vor meiner Zeit. Aber ich war so vorsichtig, ich gab ihm meine Masterarbeit in deutsch und hebräisch gleichzeitig. Ich hatte sie zuerst deutsch geschrieben und sie dann selber ins Hebräische übersetzt. Denn ich wollte nicht dass schreiben, was ich schreiben kann, sondern dass, was ich schreiben will. Und dann hatte ich die Mutter eines Kollegen gebeten, mein Hebräisch zu überprüfen“.

„Das waren unsere Anfänge in Jerusalem. Ich habe 1942 meinen Master gemacht, eine Abschlussarbeit geschrieben über Savoner Roler und dann habe ich mich versucht irgendwo zu ernähren, eine Lehrstelle zu bekommen. Denn was kann man schon machen mit Geschichte. Und dann hat mir die Erziehungsbehörde, die damals zuständig war, dass war ja vor der Staatsgründung etwa 1942, 43, vorgeschlagen nach Teheran zu gehen. Dort waren die ersten Kindertransporte angekommen, die von Polen über Russland nach Teheran kamen. Das habe ich nicht gewollt, nach Teheran gehen, ich wollte in Jerusalem bleiben. Dann habe ich stattdessen mit einem Freund, Herbert Bluhm, zusammengearbeitet. Er war Tischler, ein guter Tischler. Wir haben zusammen, nicht ganz zwei Jahre, eine kleine Fabrikation für Holzartikel gemacht, die man aus Kistenholz machen konnte, und zwar aus besonders gutem Kistenholz. Das Holz holten wir von Spinnes, dem großen Importeur der Engländer. Der brachte, nicht für die Juden, sondern für das englische Militär und für die englischen Kolonialbeamten, aus Australien Butter und Käse nach Palästina. In Kisten. Und diese hab ich damals mit diesem Freund in Haifa, in Jaffo und in Jerusalem aufgekauft. Man wollte sie auch loswerden und wir waren gute Abnehmer. Und aus diesem Kistenholz haben wir fabriziert. Das hat mich irgendwie ernährt, ein bisschen, nicht einmal schlecht.“

Familie

Während Betty und Paul die Auswanderung geschafft hatten, mussten die Familien noch damit kämpfen. Über den Verbleib berichtet Paul Alsberg:
„Meine Mutter ist 1940, an dem selben Tag, an dem die Nazis in Holland, Belgien und Luxemburg eingefallen sind, am 10. Mai, ist sie abgefahren von Genua aus, nach Singapur. Und zwar hatte sie eine Karte nach Shanghai, und sie hat den Weg Singapur – Shanghai genommen, weil sie gehofft hat, vielleicht sieht sie dann noch mal meine Schwester. Und meine Schwester und mein Schwager haben das Glück gehabt, in dem einem Jahr in dem sie Singapur waren schon so viele Bekannte zu haben, dass sie meine Mutter vom Schiff holen konnten, mit einer Bürgschaft.  Sie ist dann bei ihnen geblieben. Und dann wurde meine Schwester mit meiner Mutter gemeinsam von Singapur von Engländern nach Bombay evakuiert. Dann haben sie gebeten nach Palästina gebracht zu werden, weil sie in Palästina Familie hatten. Und das wurde gemacht. Mein Bruder und ich mussten eine Bürgschaft stellen, dass wir sie dort ernähren können, dann ist meine Mutter 42 mit meiner Schwester angekommen. Einen Monat nachdem Betty und ich geheiratet hatten. Betty und ich haben im März 42 geheiratet.“

Auch Familie Keshner hat die Auswanderung schon geplant, wie die Tochter berichtet: „ Das Ziel meiner Eltern war, dass sie auswandern können. Und meine Eltern haben genau 1. Tag vor Kriegsausbruch Deutschland verlassen. Sie sind nach Luxemburg, denn dort lebte ein Bruder meines Vaters, der eine Bürgerin aus Luxemburg geheiratet hatte. Zu ihm konnten sie fahren. Sie hatten schon alles gepackt, in einem großen Lift, ihre Möbel und ihre ganzen Sachen waren alle schon weggeschickt. Sie sind dann nach Luxemburg gegangen, um von dort aus ihr Zertifikat nach Palästina zu bekommen. Aber das Zertifikat kam nicht, fast ein Jahr. Und meine Eltern blieben in Luxemburg hängen, lange Zeit. Sie hatten von vorne anfangen müssen, wieder alles zu beantragen. Das Zertifikat lag nämlich in Köln, und zwischen Köln und Luxemburg war ja keine Verbindung mehr, es war ja Krieg. Meine Eltern hatten großes Glück, genau einen Tag vor Kriegsausbruch nach Luxemburg zu gehen. Sonst wären sie nicht mehr raus gekommen. Sie sind dann ein halbes später erst hier her gekommen. Mir kam das sehr lange vor, weil man Angst hatte. Ich hab dann lange Zeit überhaupt nicht gewusst dass sie in Luxemburg sind, meine Mutter hat eine Karte geschrieben, dass sie angekommen sind. Meine Eltern haben später sogar noch ihren Lift bekommen, denn sie gepackt hatten. Sie haben zwei Lifts gepackt, dann mussten sie aber noch einmal den Transport bezahlen. So ist nur einer angekommen, aber immerhin. Meine Schwester und meine Schwager hatten das Glück nach Amerika zu kommen.“

Nachdem Familie Keshner Palästina erreicht hatte, eröffnete Herr Keshner  schnell ein neues Geschäft: „Der Vater von Betty hatte ein großes Möbelgeschäft in Wuppertal und hier im Lande, was konnte er machen, hat er versucht gebrauchte Möbel aufzukaufen und dann wieder herzurichten, mit einem kleinen Schreiner, und dann wieder zu verkaufen. Sekondhandmöbel also. Und das Geschäft ging recht gut, aber er konnte das alleine kaum machen, denn er musste ja auch immer wieder raus gehen um sich in den Privathäusern der Neuankömmlinge die Möbel anzusehen, die sie nicht mehr haben wollten. Da haben wir also folgendes gemacht, ich war bei ihm teilweise in seinem Geschäft und gleichzeitig habe ich mich mit meiner eigenen Fabrikation mit dem Freund beschäftig. Und außerdem habe ich mir einen Vormittag frei gehalten, um eine Doktorarbeit anzufangen.

Doktorarbeit

Neben seiner Arbeit bei Herrn Keschner und seiner eigenen Fabrikation hat sich Paul Alsberg nun mehr jede Woche einen Vormittag frei gehalten, um eine Doktorarbeit anzufangen. Er berichtet: „Diese Doktorarbeit wurde mir empfohlen von einem meinem Lehrer, der mir sagte, es gäbe ein ganz großes Werk, von dem keiner weiß was man damit machen soll. Das ist ein Tagebuch von einem Marino Sanuto aus dem 15. Jahrhundert, 57 Folianten, die liegen im Rockefeller Museum. Und Italienisch konnte ich damals recht gut, so dass ich zu hause anfing dieses Tagebuch von M.S. etwas zu lesen. Man muss jemandem bei einem Doktorat ein sehr gut umgrenztes Thema stellen. Ich habe später meinen Studenten für ihre Abarbeiten immer sehr, sehr fest umgrenzte Themen vorgeschlagen. Man schwimmt sonst. Also ich bin tatsächlich mehrere Jahre geschwommen im M.S. Und dann konnte ich nicht mehr ins Rockefeller Museum gehen, weil unser Befreiungskrieg im Dezember 1947 ausbrach. Ich hatte gerade zehn der Folianten gelesen. Also diese schwere Arbeit ist versunken.“
Später hat Paul Alsberg eine neue Doktorarbeit geschrieben, über die zionistische Exekutive zwischen 1904 und 1914. 10 Jahre zionistischen Geschichte, über die man damals kaum etwas wusste.

Militärzeit

Während der Zeit im Geschäft ernährte sich Paul Alsberg gar nicht schlecht. Doch nach einer Weile verlor sein Freund das Interesse an dieser Arbeit und auch Unabhängigkeitskrieg stand bevor: „Irgendwann hat Helmut gesagt: „mich interessiert das nicht mehr! Wenn du willst, machst du das alleine weiter“. Hab ich auch getan. Ich habe mir Schreiner gesucht, die in Lohnarbeit für mich gearbeitet haben. Ich habe meine Produkte in Haifa, Tel Aviv und Jerusalem abgesetzt. Und dann 1946 begann die Krise, die Explosion am King David, der Aufstand wenn man so sagen kann, des Etzel und der Lechi, die ganz rechten Gruppen, die jede Kooperation mit England verweigerten, auch während des Weltkrieges. Und da die Engländer gegen den so genannten ungesetzlichen Transport von Menschen nach Palästina waren, illegale Einwanderung, musste jedes Schiff das ankam wirklich umkämpft werden, nicht mit Waffen, damit man es überhaupt landen konnte. Die Menschen wurden auf vollkommen untauglichen Schiffen von der Türkei oder Rumänien hier her gebracht. Menschen die sich noch gerade während des Weltkrieges retten konnten, wurden dann am Strand des Landes irgendwo abgesetzt und von der Bevölkerung aufgenommen. Da war natürlich ein gewisser Hilferahmen nötig, der sowohl von der Hagana, das war das Militär, der Jewish Agency oder von Lechi und Etzel kam. In diesem Kampf haben diese revisionistischen Gruppen das Hauptquartier der Engländer im King David in die Luft gesprengt und die Engländer haben damit reagiert, dass sie eine Sperre über Jerusalem und Tel Aviv verhängt haben. So konnte ich nicht mehr liefern, mein Geschäft war de facto kaputt, ich war nur noch für innerhalb Jerusalem und, als es sich ein wenig lockerte, mit Lieferungen nach Haifa. Aber das war schon sehr, sehr schlecht für mich. Als der Krieg wirklich los ging, unser Unabhängigkeitskrieg, im Dezember 1947, wurde ich als Sanitäter mobilisiert, von der Hagana, wir waren da im vollen Dienst. Ich war zwar die ganze Zeit in Jerusalem, Jerusalem war ja Front, aber meine Holzlager die ich hatte, wurden zum Teil von den Bewohnern als Brennmaterial benutzt. In einem Gebäude gab es einen Volltreffer und der Großteil wurde von dem Regen im Winter  zerstört. Also, dass war für mich persönlich schon eine ziemliche Katastrophe. Ich muss dazu sagen, Betty hat die ganze Zeit über gearbeitet, als Krankenschwester und Kinderpflegerin.“

Das Zionistische Archiv

Am 29. Juli 1946 gebar Betty Alsberg eine Tochter, Irit, womit Paul Alsberg nun eine kleine Familie zu ernähren hatte. Diese neue Verantwortung führte und musste zu Veränderungen führen. Er berichtet: „Eine kleine Familie zu ernähren war damals zwar nicht einfach, aber das konnte ich sehr gut. Und als ich dann von unserem Militär entlassen wurde, im Februar 1949, hat Betty gesagt: „nicht weiter machen auf dieser Linie“. Du wirst dir einen richtigen, vernünftigen Posten suchen, mit einem vernünftigen, festen Gehalt, dass kann man nicht weiter so wirtschaften. Also eine sehr weibliche und vernünftige Einstellung. Dann habe ich mich bemüht beim Arbeitsamt einen Posten zu finden. Ich ging zum Arbeitsamt zu einer sehr netten, kluge Dame. Die fragte mich: „ja was haben sie denn gelernt“. Da sagte ich: „nichts vernünftiges“. Und das stimmte ja auch. „Gut“, sagte sie, „nichts vernünftiges verstehe ich, aber was haben sie denn gelernt“? Habe ich gesagt: „Geschichte und romanische Philologie“. Und da hat sie gesagt: „vielleicht …, die Universitätsbibliothek hat jemanden gesucht. Also bin ich zu Universitätsbibliothek geschickt worden, und der Leiter der Bibliothek hat mir gesagt, es täte ihm schrecklich leid, aber er hätte vor einer halben Stunde jemanden angestellt, ich würde sicher besser passen, aber in einem Monat könnte er noch einmal schauen. Bin ich zurück gegangen zu der Beamtin, hat sie gesagt: „ja wissen sie, ich erinnere mich auch dass jemand, Dr. Herliz, der Leiter des zionistischen Archivs jemanden gesucht hat. Ich glaube es…“ Und darauf bin ich dann ins zionistische Archiv geschickt worden. Da sagte der Direktor, nein, er hat keinen gesucht. Aber ich soll mich doch vielleicht mal an seinen Kollegen Dr. Alex Bein wenden, vielleicht wüsste der es. Dann hab ich also mit Dr. Alex Bein gesprochen, und der sagte: „ja das stimmt, wir haben uns vor einem halben Jahr darum bemüht, aber ob diese Genehmigung, noch jemanden einzustellen, ob die noch in Kraft ist, dass weiß ich jetzt nicht. Hören sie zu, bleiben sie mir im Wort, dass sie nichts anderes suchen, dann werde ich mich bemühen“. Dann habe ich gesagt: „also ich kann ihnen nicht lange im Wort bleiben, ich habe eine kleine Familie zu ernähren“. Aber er musste weg fahren, nach Zypern, da man in Zypern die Lager der illegalen Einwanderer, die von den Engländern nach Zypern gebracht worden waren, auflöste. Und die hatten dort Selbstverwaltung und es gab viele organisatorische Fragen, mit vielen Akten, die Alex Bein übernehmen sollte. Als er zurück kam hat er gesagt: „gut, jetzt habe ich glaube ich den ersten Schritt getan, ich habe die Genehmigung“. Am 1. März 1949 habe ich angefangen im zionistischen Archiv zu arbeiten. Und ich hatte keine Ahnung was ein Archiv war, obwohl ich Historiker war. Aber das haben wir nicht gelernt. Und dann habe ich bei Alex Bein und Georg Herliz, die beide meine Chefs waren, gelernt, was ein Archiv ist und was Archivkunde ist. Sie gaben mir beide Bücher zu lesen.

Seit ich im zionistischen Archiv gearbeitet hatte, war ich nur noch mit zionistischer Geschichte beschäftigt. Deshalb promovierte ich auch in diesem Thema. Dann habe ich mich 1957 als Direktor des Staatsarchivs beworben. Und zwar hatte man kurz vorher nach einem neuen Archivgesetz meinen Chef Alex Bein zum so genannten Ganas Hamedina, dem Staatsarchivar ernannt. Aber diese Ernennung bedeutete nicht, dass er das Staatsarchiv leitet, sonder nur das er die gesetzliche oberste Instanz ist. Und als die Position des Direktors des Staatsarchivs  ausgeschrieben wurde, befürwortete Alex Bein dass ich mich darum bewerbe. Und so bin ich der Direktor des israelischen Staatsarchivs geworden. Das war wie gesagt 1957. Und 1970 ging Bein in Pension, so dass ich zum israelischen Staatsarchivar ernannt wurde, zusätzlich zu meiner Position als Direktor des Staatsarchivs. Dann war ich beides. In Pension gegangen bin ich 1989 offiziell, aber ich habe bis 91 gearbeitet. Denn der damalige Premierminister Shamir hat gesagt: „was heißt den das, `Altersgrenze`. Ich bin doch auch älter“. Und dann hab ich gesagt, „Nein! Auch die Oberrichter müssen in Pension gehen, also muss ich es auch“. Und da hat er gesagt: „Gut, aber noch ein Jahr, bis wir jemanden finden“. Und so ist es dann gewesen. In der Zwischenzeit haben meine Nachfolger mehrfach gewechselt. Ja, aber ich habe zumindest die Genugtuung, dass eigentlich ich das israelische Archivwesen des Staates aufgebaut habe, mit den Gesetzen und Verordnungen. Sie müssen sich vorstellen das ein Beamtenapparat von sagen wir einmal 60000 Beamten jedes Jahr 20 km Akten produziert. Diese 20 km zu archivieren wäre ein Unding, also was tun? Und da beginnt die wirkliche Arbeit die ein Staatarchivar oder Staatsarchiv haben, denn die zwei, drei oder fünf Prozent, die man ja aufhebt, weil sie wichtig sind, die sind eine extra Sache, aber damit um Gottes willen, die 95 oder 97 Prozent ihnen die Arbeit nicht unmöglich machen, müssen sie gesetzliche, praktische Klärungsanlagen haben, die dann durchsieben. Und wie macht man dass, denn man kann ja nicht alles lesen. Eine andere Sache ist, wann darf man in Archivbestände einsehen, wie lange müssen sie verschlossen sein. Das ist die Arbeit, das war faktisch und praktische die Sache die ich gemacht habe.
Die ganzen Jahre habe ich mich eigentlich beschäftigt mit Archivverwaltung und Archivkunde, dass habe ich auch an der Universität unterricht.“

Weitere Tätigkeiten

Neben seiner Tätigkeit als Staatsarchivar, oder als Teil davon, fiel unter seine Aufgabe auch die Ausbildung von Archivaren in der Universität. Darüber erzählt er: „Die Arbeit an der Universität habe ich begonnen mit meinem Chef und meinem Freund Alex Bein, ich glaube 1961. 1961 ging ich ein halbes Jahr auf Reisen, da ich ein Stipendium bekam, von den United Nations, Archivkunde im Ausland zu studieren. Und zwar nicht etwa auf der Bank zu sitzen und Vorlesung zu hören, sondern ich wurde hingeschickt, vom National Archiv in Washington zum Public Record Office in London, zum Bundesarchiv in Koblenz und so weiter. Ich habe wirklich viel bei dieser Ausbildung gelernt, dass hat mir eigentlich das Rüstzeug gegeben, den Rücken gestärkt, um hinterher Archivkunde bei uns richtig systematisch zu unterrichten. Und das habe ich getan vom Ende der 50er Jahre an bis ich glaube 1992. Also eine ganz schön lange Zeit.“

Daneben war Paul Alsberg lange Zeit Mitarbeiter von Yad Vashem: „Ich war viele Jahre der Vorsitzende der so genannten wissenschaftlich-beratenden Kommission von Yad Vashem. In der damaligen Zeit, ich spreche über die 60er und 70er Jahre, war Yad Vashem längst nicht so groß wie heute. Und der Vorsitzende von Yad Vashem war mehr oder weniger jemand, der auch als Historiker gearbeitet hat. Vor allem über Russland. Außerdem hat man sich zunächst noch den Gebäuden, der rein physischen Ausbreitung von Yad Vashem gewidmet. So sind die Gebäude und das Tal der Gemeinden entstanden. Aber man suchte damals einen Wissenschaftler der den Vorsitz nimmt einer wissenschaftlichen Kommission und zwischen den verschiedenen Gruppen, die sich alle mit der Shoa beschäftigen, keine Partei ergreift. Denn es sind doch alle parteimäßig gebunden. Und da hat man zuerst Professor Shaul Friedländer genommen und als dieser ins Ausland ging, hat man mich gebeten den Vorstand zu übernehmen. Und das hab ich einige Jahre gemacht. Unter dieser Kommission sind die so genannten „Bücher über die Gemeinden“ entstanden.

Wissen sie, in so einer Stellung wie Staatsarchivar Israels, da kleben sich alle möglichen Funktionen noch an und wenn man die nicht will muss man absolut Groß sein und sagen: „die will ich nicht“, und wenn man dass nicht sagt wirft man sie einem nach. So kam ich auch dass ich hinterher auch noch der Vorsitzende der Bibliothekare geworden bin. Weil man sich untereinander nicht einigen konnte wer der Vorsitzende sein soll, hat man den Archivaren genommen. Das ist ein extra Kapitel. Ich glaube 10 oder 15 Jahre war ich Vorsitzender des Bibliothekarenverbandes. Und auch Vorsitzender des Archivarenverbandes.“
Eine weiter große Tätigkeit war die Arbeit als Nachlassverwalter von Else-Lasker-Schüler. Wie er dazu kam schildert er folgendermaßen: „Ich hatte früher einen sehr guten Freund, Manfred Sturmann, ein Dichter, der in Jerusalem lebte, in der selben Straße wie wir. Und Manfred war der Nachlassverwalter von Else Lasker Schüler, eingesetzt vom Irgun Olej Merkas Europa (IOME – Verband der Einwanderer aus Zentraleuropa). Dieser zahlte ihr noch zu Lebzeiten monatlich Geld aus, damit sie in Ruhe leben konnte. Aber sie hat das Geld im Allgemeinen sehr schnell verschenkt oder verbraucht. Dann hat man ihr jeden Monat die Hälfte gezahlt am 1. und die zweite Hälfte am 15. Und der Irgun wurde, als sie starb, vom Gericht als der Verwalter des Nachlasses eingesetzt. Und mein Freund, der Dichter, war der Sekretär der Jerusalemer Abteilung und so war er dann der Nachlassverwalter. Und irgendwann, es muss um 1980 gewesen sein, traf mich Manfred auf der Straße und sagte zu mir: „Paulchen“, er nannte mich immer Paulchen, „ich kann nicht mehr den Nachlass von Lasker-Schüler  machen, es ist mir zu viel. Ich habe angegeben, dass du als Elberfelder das übernehmen wirst.“ Ich sagte dann: „Aber ich versteh doch nichts davon, du bist ein Dichter, ich bin ein ganz prosaischer Mensch, ich kann überhaupt nichts verstehen von Dichtung.“ Aber er sagte: „dass macht überhaupt nichts, du bist der nächste Nachlassverwalter“. Dann bekam ich ein paar Tage oder Wochen später ein Brief vom Gericht, dass ich bitte das und das unterschreiben muss, als Nachlassverwalter von E. Lasker Schüler. Das habe ich unterschrieben und so kam ich zu diesem Kind.

Als Nachlassverwalter ist es meine Aufgabe die Einnahmen zu Gunsten der Erben zu verwalten. Erben im direkten Sinne hat sie gar keine mehr, aber es gibt Erben der Erben. Und legal sind dass dann die Erben. Außerdem muss jeder, der Schriften von ihr publizieren will, die Einwilligung des Nachlassverwalters haben. Denn rechtlich sind diese Schriften noch 70 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers geschützt. Da sie 1945 gestorben ist, geht diese Zeit bis 2015.
Ich bin zwar schon als Nachlassverwalter zurückgetreten. Aber durch eine Schlamperei unserer Behörden wurde in der Zwischenzeit noch kein anderer ernannt. Gegenüber den Erben bin ich also weiter verantwortlich. Nun seit sicher 20 Jahren oder mehr.“

Sicher nicht die letzte, aber eine weiter große Funktion die Paul Alsberg in seinem Leben angetreten ist, war die des Redakteurs des MB, des Mitteilungsblattes des IOME. Außerdem wurde er der Vorsitzende des IOME und wäre es wahrscheinlich immer noch, wenn er es nicht im Alter von 85 endgültig abgegeben hätte. Natürlich schreibt er trotzdem noch, zu den Feiertagen zum Beispiel.

Besuche in Wuppertal

„Ich bin später noch sehr häufig in Wuppertal gewesen, wir haben dort gute Freunde.
1951 oder 52 bekamen wir unser Haus wieder, dann fuhr ich das erste Mal nach Deutschland, um einen Nazi, der in der schönsten Wohnung wohnte, heraus zu bekommen. Damals war alles mietergeschützt. Und der Anwalt schrieb, dass man es mir nicht zumuten könne, wieder nach Elberfeld zu kommen, um in dem Haus zu wohnen mit diesem Nazi. Wir haben es verkauft, an Professor Maser, von der Bergischen Universität. Wir haben ihn einmal dort besucht. Er hat uns zum Kaffee eingeladen.“

Zu dieser Zeit hatte traf Paul Alsberg auch seinen ehemaligen Deutschlehrer, außerdem machte er sich auf, seinen alten Schulfreund Hennig zu besuchen: „Ich schellte an dem großen Haus der Glanz, da öffnete mir eine kleine, weißhaarige Frau nach ein paar Minuten des Wartens. Ich sagte zu ihr: „Paul Alsberg“, da sah sie mich groß an und dann sagte sie: „dann bist du wohl der einzige der übrig geblieben ist“. Das bezog sich nicht auf die Juden, das bezog sich auf ihre Familie. Und dann sagte sie, Hennig sei in den letzten Tagen des Krieges über Wien als Pilot abgeschossen worden. Ihr Mann sei am gebrochenen Herzen gestorben, der andere Sohn sei gefallen und auch der Schwiegersohn. Es war eine vereinsamte Frau, die da vor mir stand und ich war der einzige der übrig war. Ich habe geheult, dass hat mich wahnsinnig aufgeregt. Und dann sagte sie zu mir, dass Hennig geheiratet hatte und eine kleine Tochter hat. Ich habe sie nicht versucht zu erreichen. Hennig war ein treuer, treuer Freund. Er war der einzige Nichtjude der mitgegangen ist, bei der Beerdigung meines Vaters, im Oktober 1936. Und er kam noch mal zu mir, mich zu besuchen, in unserem Haus, als ich aus Buchenwald zurückgekommen war. Er kam in Uniform, in Wehrmachtsuniform, um mich zu sehen. Dazu gehörte ungeheurer Mut. Das war ein besonders mutiger Mensch, aber auch trotzig würde ich sagen, der sich nicht mit den Nazis identifizieren wollte.

Das letzte Mal waren wir bei der Einweihung der Synagoge in Wuppertal, wir sind auch schon einige Male im Goldenen Buch der Stadt Wuppertal eingetragen. Aber das Deutschland ist nicht mehr unser Deutschland. Zu viele Einwanderer, die nicht dort geboren sind. Ich habe keine Beziehung zu Deutschland. Nur zu Menschen habe ich Beziehungen.“

Blick zurück, Blick in die Zukunft

„Jeder von uns hat eine gewisse Befriedigung, dass wir eine herrliche Familie gegründet haben. Wir haben eine wunderbare Tochter und die Erinnerung an einen wunderbaren Sohn. Er ist am Jom Kippur 1973 gefallen und hat ein Grab auf dem Herzlberg. Wir haben heute vier Urenkel und erwarten noch ein fünftes. Ende März wird meine jüngste Enkelin heiraten, dann wird es noch mehr Urenkel geben. Wir haben persönlich mitgeholfen, jeder an seinem Platz, etwas zu unserem Staat und seinem Aufbau beizutragen. Ich bin letzen Endes 40 Jahre Staatsarchivar und Lehrer an der Universität gewesen. Als ich das Staatsarchiv übernahm war es kein echtes Archiv. Das ist es erst unter meiner Leitung geworden. Dann alle die anderen Dinge, an denen ich mitgearbeitet habe, sei es der Irgun oder die Arbeit als Nachlaßverwalter, dass gibt einem eine gewisse Befriedigung. Ich kann kaum mehr erwarten. Ich werde jetzt 87, dann muss man wissen, „jetzt ist es bald zu Ende“. Dann muss man keine großen Ambitionen mehr haben, das was ich kann führe ich zu Ende. Wissen sie, es ist so viel Zufall in einem Leben, man kann nicht alles wollen. Man muss sich zum großen Teil von den Ereignissen lenken lassen, und dann immer wählen, ja oder nein. Und so sind wir beide alt geworden und sind sehr zufrieden.“

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  1. The "Shlomo" who is mentioned as playing an important and influential part in Paul Alsberg's life during his studies at the Jewish Theological Seminary of Breslau was my father, Rabbi Salamon Faber, who emigrated to the United States in 1939, where he served as a rabbi in several pulpits until his retirement. He remained in contact with Mr. Alsberg during his lifetime (he died in 1998), and always spoke of him with the greatest. respect and admiration. The loss of his son in the Yom Kippur War was deeply felt and mourned by my father.

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