Redaktionsgespräch mit der Literaturübersetzerin

Anne Birkenhauer

Wie bist Du zum Übersetzen hebräischer Literatur gekommen?

Ich kam 1980, direkt nach dem Abitur in Tübingen als Freiwillige der Aktion Sühnezeichen ins Land, wie sich das gehört für Angehörige meiner Generation. Ich konnte gar kein Hebräisch. Wir haben drei Monate im Kibbuz gearbeitet, im Hühnerstall und in der Fabrik. Hebräisch gelernt habe ich dabei nicht. Anschließend habe ich in Jerusalem Altenarbeit gemacht. Hebräisch hab ich wirklich auf der Straße gelernt. Mit allen Hörfehlern, wie ein Kind eigentlich.

So sollte es sein.

Ja, genau. Ich wäre nicht Lyrikübersetzerin geworden, wenn ich die Sprache nicht auf diese Art gelernt hätte. Ich bin sehr dankbar dafür. Nach meiner Freiwilligenzeit, als ich wusste, ich muss zurück nach Deutschland, wollte ich meine mündliche Kenntnis doch wenigstens noch verschriftlichen, damit mir nicht alles wieder verloren geht. So habe ich Hebräisch in Ulpanim gelernt und die Lehrer irritiert, weil ich völlig frei geplappert habe, aber das Simpelste nicht lesen oder schreiben konnte. Neben mir saßen amerikanische Studenten, die lesen und schreiben konnten, aber den Mund nicht aufkriegten. So habe ich Hebräisch gelernt. Nach drei Jahren im Land bin ich zurück nach Deutschland und habe dort Judaistik und Germanistik studiert, weil ich dann schon den Wunsch verspürte, aus dem Hebräischen zu übersetzen.

Der Wunsch wurde durch die Sprache ausgelöst?

Absolut durch die Sprache. Sie hat diese enormen Möglichkeiten, aus einer Wurzel viele Worte zu bilden. Wenn man eine Wurzel kennt und das grammatische System ein bisschen kapiert hat, kann man schon eine Menge  sagen. Man kann Worte erfinden, die es nicht gibt, die aber trotzdem verstanden werden. So konnte ich zu einem Lyriker, den ich sehr interessant fand und der einen weichen Nicki-Pullover trug, sagen: ‚Ata latif hajom‘ (du bist heute so streichelbar). Und das hat er natürlich verstanden, und er hat auch verstanden, warum ich das sagte. Das ist schon toll.

Ich habe dann als erstes Gedichte übersetzt, einfach, weil die Texte kurz genug waren und man das Ende absehen konnte.

Ist alles übersetzbar?

Ich würde sagen, dass man eigentlich alles übersetzen kann. Und zwar aus dem einen Grund, dass es Menschen sind, die Sprache sprechen. Da wir Menschen sind, haben wir zwar große Unterschiede in unserer Wahrnehmung, aber wir können es formulieren, soweit wir uns dessen bewusst sind. Deswegen kann man es auch in eine andere Sprache bringen, vielleicht auf irrsinnigen Umwegen. Ich glaube es wird erst dann schwierig, wenn die Form der Sprache ein Teil des Ausdrucks ist, wie in der Lyrik oder in besonders hoch geformten Texten. Dann muss man das ganze Formsystem überdenken: Wie wirkt diese Form auf Deutsch? Du hast ein Gedicht auf Hebräisch und auf Hebräisch reimt sich sowieso fast alles wegen der grammatischen Endungen, und man kann auf Hebräisch noch über die größten Gräuel in Reimen schreiben, wie Alterman das gemacht hat. Das kannst du heute auf Deutsch nicht. Es kling wie ein misslungenes Kinderlied. Deshalb muss man bei solchen Texten, nehmen wir einmal Alterman – der hat ja verboten, dass man ihn ins Deutsche übersetzt, deshalb musste ich das noch nicht tun. Bei so einem Text muss man überlegen: okay, es ist eine Gedichtform, wenn ich aber den Reim übersetzen würde, würde es auf Deutsch völlig anders wirken, auch weil man auf Deutsch nur sehr schwer reimt, man muss sich dafür sehr verbiegen, und dann geht die inhaltliche Präzision verloren. Aber ein Gedicht ist ja auch nicht nur Reim; Gedicht ist ja auch Rhythmus. Das heißt, ich würde vielleicht ein Alterman-Gedicht in ein ungereimtes, aber sehr rhythmisches Gedicht übersetzen, so dass die Gedichtform durchaus rüberkommt, aber ich vermeide das leicht Lächerliche, das ein Reim auf Deutsch bei sehr ernsten Themen bringt. Man muss manchmal die gegebene Form in eine andere Form übersetzen.

Umdichten?

Ich glaube nicht, dass das umdichten ist. Für mich ist das immer noch übersetzen: Dem Text so treu wie möglich bleiben.

Dem Text oder dem Autor, was ist wichtiger?

Also da bin ich sehr unorthodox. Da ich im Land meiner Autoren lebe, arbeite ich gerne ziemlich eng mit ihnen zusammen. Ich bin meinen Autoren sehr treu. Ich hatte zum Beispiel mit Aharon Appelfeld große Diskussionen darüber, weil in seinen Romanen, die ich übersetzt habe, immer wieder Wörter vorkamen, die ich ins Jiddische übersetzt habe: Da kommen so kleine Diebe vor, in Italien, am Strand, mit den ganzen gestrandeten Leuten, die versuchen, illegal nach Palästina zu kommen, nach dem Krieg. Das sind ja keine richtigen Diebe, das sind eher Ganoven. Und natürlich hab ich Ganoven geschrieben. Damals wollte Aharon oft, dass ich ihm seinen Text auf Deutsch vorlese, wo ich jetzt in der Übersetzung bin, und er sagte, wie kannst du nur Ganoven schreiben? Warum Jiddisch? Und ich sage: Weil es das präziseste Wort ist, das ich hab. Darauf er: Du wirst kein einziges Wort Jiddisch in meinem Buch verwenden! Denn die Deutschen haben vom Jiddischen nur den pejorativen Wortschatz übernommen. Das lasse ich nicht zu. Du schreibst irgendetwas anderes, aber ‚Ganoven’ schreibst du nicht. Ich habe ihm dann gesagt: Aharon, das bedeutet aber, dass das Deutsch in deinem Buch jetzt 'judenrein' ist. Und er sagt: Das ist mir egal, damit kollaboriere ich nicht. Wenn er das so will, dann mach ich das so. Ich werde Aharon nicht noch einmal in deutscher Sprache Leid antun, aber ich bin davon überzeugt, dass die Texte dadurch schlechter geworden sind, denn ich habe die Möglichkeiten, die das Deutsche mir bietet, nicht ausgeschöpft. Das ist mir nicht leicht gefallen, aber es geht natürlich nicht, gerade, wenn der Autor die Zielsprache beherrscht, dass in seinem Buch dann plötzlich etwas steht, das er ausdrücklich nicht wollte.

Wie überwindet man Hindernisse, wie zum Beispiel eine Terminologie, die im Deutschen unbelastet ist, für Juden aber emotionales Gewicht trägt? Wie zum Beispiel Heines ‚Mammonismus‘, oder ‚Mezie‘ oder ‚Haberer‘, das wohl eher im Österreichischen gebraucht wird?

Also, da habe ich etwas Ähnliches. In dem vorletzten Buch von Chaim Be’er (lifnej hamakom), das auf Deutsch ‚Bebelplatz‘ heißt, sagt der alte Bibliothekar Rappoport dem israelischen Autor, der nach Berlin kommt: Ich werde dein ‚moreh derech‘ sein. Wie soll ich das übersetzten? Touristenführer? – Ein 80-jähriger Jude, der nach Deutschland zurückgekommen ist und in der deutschen Sprache lebt, wird dieses Wort nicht benutzen. Der wird aber auch nicht gleich auf ‚Mentor‘ gehen. Ich habe lange überlegt und das Problem als Chance erkannt: Rappaport sagt jetzt in der Übersetzung: Hier in Berlin bin ich dein Guide. Dann fragt Chaim Beer: Was heißt denn Guide auf Deutsch? Rappoport sagt: Führer. Und Chaim antwortet:  Dann bleiben wir lieber beim Englischen. –Damit habe ich die ganze Problematik beschrieben und auch noch den Leser sensibilisiert.

Aber das hast du mit dem Autor besprochen.

Das habe ich mit Chaim besprochen. Weil es in diesem letzten Buch von ihm nicht nur darum ging, religiöse Dinge der jüdischen Kultur zu transportieren … jüdische und nichtjüdische deutsche Leser stehen auf zwei Seiten der Schoa, das Thema des Buches ist die Schoa.

‚…jüdische Kultur zu transportieren‘, sagst du. Zu transportieren? Das Wort selbst weckt schlimme Assoziationen … alles hat einen Zusammenhang. Die kollektive Bearbeitung des Traumas ist nie beendet …

Da hast du völlig Recht; das höre ich hier aber schon nicht mehr; das ist für mich in diesem Zusammenhang schon ein ‚unschuldiges’ Wort. Im letzten Buch von Chaim Beer, wo es um jüdische Kultur und jüdische Bräuche geht, habe ich an vielen Stellen kleine Erklärungen eingeflochten, die den Hintergrund beleuchten. Es ist ja nicht interessant, wo ein bestimmter Bibelvers, den jemand zitiert, in der Bibel steht, sondern in welchem Kontext er benutzt wird. Das muss mein deutscher Leser wissen. Bei diesem Buch musste ich jetzt aber auch noch die ganze Befindlichkeit, mit der ein historisch bewusster Israeli nach Berlin fährt, rüberbringen. Da steht auf dem Stadtplan ‚Wannsee‘, — für einen Deutschen ist Wannsee eben ein See, der denkt nicht gleich an die ‚Wannsee-Konferenz‘. Das musste alles auf Deutsch eingeflochten werden. Das war eine sehr spannende Arbeit mit Chaim, ich habe ihm die kleinen Dialoge, die ich mir ausgedacht hatte, ins Hebräische übersetzt, und er hat dann gesagt, gut, oder das passt mir jetzt nicht so.

Ich fuhr einmal nach München und fragte einen Beamten, ob er mir ein Hotel empfehlen kann. Er sagt: In München finden Sie kein Zimmer. Aber haben Sie es schon in Dachau probiert? Dachau? Die Sprache erhält durch die kollektive Erinnerung eine bestimmte Imprägnation, die ein Teil meines Wesens geworden ist.

Ja. Dazu kann ich dir auch etwas erzählen. Meine Kollegin und Freundin Rachel Bar-Chaim, die deutsche Literatur ins Hebräische bringt, und ich, die ich ja in die umgekehrte Richtung übersetze, wir treffen uns jede Woche und lesen uns unsere Übersetzungen vor, wobei die andere jeweils in ihrer Muttersprache das Original mitliest. Da stoßen wir dann noch auf Verständnisfehler oder Untertöne, die wir nicht gehört haben, und das gibt uns beiden große Sicherheit bei der Arbeit. Natürlich nehme ich erst einmal alles auf dem Hintergrund meiner deutschen Sprache wahr und da kann einem immer etwas entgehen. Es gibt in Straelen, einem kleinen Ort in Deutschland, ein Übersetzerzentrum. Dort waren Rachi und ich manchmal zusammen; jede hat an ihrem Buch gearbeitet. Rachi wollte Briefumschläge kaufen. Sie ging dreimal in den kleinen Schreibwarenladen gegenüber, den es damals noch gab, und dann konnte sie es nicht sagen …

… wegen Umschlagplatz …

Ja. Sie rief mich in ihr Zimmer und war völlig fertig. Das holt einen ein, aber wo, das weiß man vorher nicht. Rachi ist eine tolle Übersetzerin mit einem tollen Sprachgefühl, aber Deutsch zu sprechen, das ist ihr niemals leicht gefallen. Wir können zusammen nur Iwrit reden. Wenn jemand anders aus Deutschland dabei ist, dann reden wir plötzlich Deutsch miteinander, das ist dann, als würden wir Chinesisch reden, weil wir das überhaupt nicht gewohnt sind.

Wie hast du Rachi getroffen?

Jehudith Schargal, eine Kollegin von Rachi, hatte im Übersetzerkollegium in Straelen von mir erfahren und Rachi von mir erzählt, und so hat Rachi mich eines Tages angerufen und mir vorgeschlagen, zusammenzuarbeiten.Als sie die ‚Linkshändige Frau‘ von Peter Handke übersetzte, haben wir schon zusammengearbeitet. Sie hat mir Stellen gezeigt und gefragt, steckt da nicht noch etwas dahinter auf Deutsch? Das machen wir jetzt seit fünfzehn Jahren. Manchmal haben wir uns sogar zweimal in der Woche getroffen, um eine bei der anderen mitzulesen. Das ist immer ein tolles Erlebnis gewesen.

Ich lese jeden hebräischen Text mit enormem Tiefgang, auch wenn du mir ein Telefonbuch gibst, suche ich nach den Wurzeln etc. Das ist die Art, in der ich Hebräisch lese, nicht spreche, sprechen kann ich total wild, aber lesen … bis man überhaupt herausgefunden hat, wie man das aussprechen soll … das erfordert Nachdenken. Ich lese auf Deutsch lange nicht so gründlich wie auf Hebräisch. Wenn Rachi Thomas Bernhard übersetzt, dann muss ich natürlich den Thomas Bernhard so viel gründlicher lesen. Deutsche Autoren, die mir nicht so gut lagen, habe ich deswegen dann in aller Tiefe gelesen und gemerkt, was die für tolle Arbeit geleistet haben. Die beste Art ein Buch zu lesen, war eigentlich immer zusammen mit Rachi, weil ich dann endlich im richtigen Tempo, nämlich sehr langsam, gelesen habe. Nicht nur auf Bedeutung hin, diesem Unding verfallen wir ja alle immer wieder, sondern zu gucken, was macht der Autor und wie macht er das eigentlich.

Du hast also mit Rachel Bar-Chaim fünfzehn Jahre lang zusammengearbeitet. Eine gute Art, die Einsamkeit des Übersetzers zu überwinden.

Wir sind darüber richtige Freundinnen geworden. Eine kennt die Sprache der anderen, was ja vielleicht eine der intimsten Arten des Kennens ist, wenn man weiß, welche Wörter man nicht benutzen sollte, welche Wörter die andere nicht hören kann, welche Wörter man immer wieder vergisst. Es gibt Wörter, nach denen frage ich Rachi immer wieder, weil ich sie mir aus irgendeinem Grund nicht merken will. Solche Wörter hat sie auch. Also, das ist eine wahnsinnig intime Art, sich zu kennen. Die Figuren aus den übersetzten Büchern sind jetzt unsere gemeinsame Geschichte. Mit Thomas Bernhard sind wir durch die Städte gezogen, von denen er schreibt. Wir können eine Bernhard-Assoziation im Gespräch bringen und wissen beide genau, was gemeint ist. Jeder andere Leser liest darüber hinweg. Aber wir haben das gemeinsame erarbeitet. Unsere sehr persönliche Freundschaft ist auch aus literarischem Material gemacht.

Mein Onkel und meine Tante waren sechzig Jahre lang verheiratet und verliebt. Sie waren beide Intellektuelle. Am Frühstückstisch fragte er manchmal: Sag mal, Hanna, was haben wir geträumt? Intimer geht es nicht.

Das große Problem Hebräisch-Deutsch zu übersetzen, ist wirklich, das Schweigen zu übersetzen. Die Sachen, die nicht ausgesprochen werden. Auf die jeder Leser anders reagiert, auf die man an einem Tag anders reagiert als am anderen. So etwas kann man nicht für jeden explizit machen. Wir haben eine schöne Möglichkeit gefunden mit den Gedichten von Gerschon Ben-David. Er war der Sohn einer aus Polen stammenden jüdischen Mutter, und überlebte in Köln bei deutschen, nichtjüdischen Pflegeeltern in Köln. Sie ist in Bergen-Belsen umgekommen, und er hat sich als Jugendlicher gleich nach dem Krieg den Überlebenden von Bergen Belsen angeschlossen, ist mit ihnen durch die DP-Lager gezogen, die Lager für ‚Displaced Persons‘, und dann 1947 illegal nach Israel gekommen. Er hat versucht, das Schicksal seiner Mutter in sich aufzusaugen. Er hat dann hier in Jerusalem gelebt als ziemlich wilder Bohemien, hat tagsüber Hebräisch gesprochen und viele Nächte durchgezecht. Sein Geld hat er an der Hebräischen Universität in der Abteilung für Oral History verdient, wo er Überlebende des Theresienstädter Familienlager  in Auschwitz interviewt und diese Text abgetippt hat.. Nachts hat er dann auf Deutsch Gedichte geschrieben, die hier niemand kannte, über die Schoa, denn niemand in seinen Kreisen sprach Deutsch und niemand wollte etwas davon wissen.

Das ist schrecklich: Exil im Exil im Exil im Exil. Das erste Exil war bei der arischen Familie, dann in Bergen-Belsen, dann von der deutschen Sprache ins Hebräische und dann zu den deutschen Schriften, die in Israel niemand kennt. Das nenne ich ‚ma’agalei galut‘ – Kreise des Exils.

Meine Mutter hat in ihrem Verlag diese Gedichte in einer zweisprachigen Ausgabe herausgegeben, ins Hebräische übersetzt von Avraham Huss. (Gerschon Ben David, Gedichte. Straelener Manuskripte Verlag 1995) Wir haben seine Aufzeichnungen für die Abteilung für Oral History durchgelesen und dort ganze Zeilen aus seinen Gedichten wiedergefunden. Da konnte man erkennen, wie er mit diesen Bausteinen arbeitet, wie er in seinen Gedichten die Identität dieser Leute annimmt. Wir haben, um diese Deutung nicht aufzudrängen, eine grafische Lösung gefunden wie im talmudischen Text. Das Gedicht steht in der Mitte, drum herum ist Schweigen, und unter dem Text steht die Stelle aus den Interviews, auf die der Text anspielt. Das ist eine Art, den Leser entscheiden zu lassen, in welcher Weise er die Assoziationen zur Kenntnis nehmen will, denen das Gedicht entspringt. Heute fragen  auch Israelis nach Ben-David, weil der israelische Historiker Dov Kulka ihn in seinem letzten Buch mehrfach erwähnt hat.

Mit Agnon-Texten ist es so ähnlich. Man kann beim Übersetzen nicht alle Anspielungen in den Text reinstecken, man kann dem Leser aber sagen, wenn du willst, dann gebe ich dir das Material dazu.

Das ist immer eine Frage, ob man wirklich alles entziffern oder entkrypten will, muss oder kann.

Texte bergen Geheimnisse, und der Übersetzer soll sie ja nicht verraten. Er muss sie lüften und wieder einpacken und verstecken. Und irgendwo zwischen den Zeilen hinschreiben: Hier ist ein Weg zu einem Geheimnis.

Bist du auch irgendwie Schoa-besessen?

Ich war es auf jeden Fall, als ich gekommen bin. Vor allem dieses Nicht-Drüber-Reden in Deutschland.

Das Schweigen. Das Verschweigen.

1978 haben wir an meinem Gymnasium in Tübingen eine Veranstaltung ‚40 Jahre ‚Reichskristallnacht‘ gemacht. Es war das erste Mal, dass öffentliches Sprechen an einer Schule darüber begann. Da gab auch diesen Film ‚Holocaust‘, eigentlich eine ziemliche Soap Opera, an vier Abenden im Deutschen Fernsehen. Danach konnte man im Studio anrufen, das war völlig neu, und dort saßen Psychologen und Historiker. Damals haben viele Leute zum ersten Mal ihre Eltern mit der Frage konfrontiert, was sie getan haben und was sie wussten. Es war wirklich ein gewaltsames Brechen des Schweigens. Ich selbst komme ja aus einer nicht-jüdischen Familie, die aber im kommunistischen Widerstand war. Ich kenne es aus der Nachkriegszeit, das heißt aus ‚meiner Nachkriegszeit’ der siebziger und achtziger Jahre, wie in Deutschland, im Kalten Krieg, nicht geredet wurde; über die Schoa sowieso nicht, aber auch nicht über den Zweiten Weltkrieg. Es gab quasi diese ‚Stunde Null’ 1945, man hatte alles wieder aufgebaut und man musste sich vor den Russen schützen. Ich kenne es aus meinem Elternhaus, dass man zu Hause anders redet als draußen. Ich konnte ja draußen nichts vom kommunistischen Hintergrund unserer Familie erzählen.

Ich meine, bei uns Zuhause hat man auch über Zigeuner und Schwule geredet, einfach, weil man eben über den Krieg und die Nazizeit geredet hat und natürlich über die Juden, und mein Vater hat irgendwann aus Amerika zwei kleine Schallplatten mitgebracht mit jiddischen Partisanenliedern, die hab ich als kleines Kind gehört. Ich wusste also als kleines Kind schon, was ein Gaswagen ist. Ich habe meine Eltern nie danach gefragt, bis ich groß war, ich habe es ja nur durch die Zimmertür gehört, ich war im Kinderzimmer und sie hörten die Lieder im Wohnzimmer. Aber ich hab wohl genügend Brocken dieser fremden und doch irgendwie verständlichen Sprache in mich aufgenommen, um zu wissen: Da ist ein Wald und da ist ein Gaswagen und danach sind die Leute tot.

Und dann dieses Nicht-Reden-Können, weil es niemanden interessiert und weil dieses Reden sofort ein politischer Akt ist: ich hatte manchmal einfach das Bedürfnis zu trauern  und wollte nicht gleich eine Demonstration, einen Kampf daraus machen. Nachdem dieses Thema für mich zentral geworden war – man hätte sich ja auch mit anderen Themen beschäftigen können – waren die Begegnungen im Altenclub von Kirijat Hajovel in Jerusalem für mich zunächst einmal eine Art innere Befreiung. Hier ist dieser Eiskern langsam geschmolzen, so dass die Gefühle überhaupt raus durften, raus konnten. Das ist bis heute so. Am Jom-Ha-Schoa, dem Schoa-Gedenktag, bin ich meistens draußen, wenn die Sirene heult, einfach um zu sehen, du bist hier unter Menschen, denen es auch so geht. Das ist okay, deine Trauer ist am Platz. Das Eis hat sich dann so nach und nach abgetragen.

Ins Israelische?

Ja, ein bisschen sicher auch. Ich habe dann im Laufe der Jahre den hiesigen schwarzen Humor dazu gekriegt, aber dabei ist meine Haut auch sehr viel dünner geworden. Ich komm wieder auf Rachi. Rachis Vater hatte einen Bruder in Bremerhaven, der wollte nicht auswandern und ist verschleppt worden und mit Frau und Kindern in Auschwitz umgekommen. Eine Freundin von uns hat in Bremerhaven mit dafür gesorgt, dass vor dem Haus, in dem er gewohnt hat, ein Stolperstein gesetzt wurde. Es war für Rachi sehr wichtig, das von diesem Onkel wenigstens so ein Zeichen bleibt, dass sein Name nicht vergessen wird. Diese Freundin war gerade hier, vor zwei Monaten, und erzählte mir ganz froh – wir sind schon lange befreundet, sie war damals mit mir hier im Rahmen der Aktion Sühnezeichen –, wie kooperativ die Stadtverwaltung war. Sie hatte das Gefühl, etwas Wichtiges hingekriegt zu haben, war also ganz zurecht guter Dinge, und mir liefen die Tränen, weil einfach die Haut manchmal so dünn ist, und ich an Rachi dachte und an diese Szene mit dem Wort ‚Umschlag’. Einerseits ist dieser Eisberg geschmolzen, andererseits merke ich, dass ich sehr viel verletzlicher geworden bin.

 

Ich glaube, dass du durch die Freundschaft mit Rachi eingegliedert worden bist in die seelische Israelisch- jüdische Existenz.

Das fing an mit den Gedichten von Dan Pagis, die ich 1989 übersetzt habe, er war schon tot, als ich die Übersetzungen machte, ich habe ihn ja noch nicht einmal mehr getroffen, aber gerade, wenn man dann im Hebräischen seinen deutschen Urvers herausspürt und sieht, der Kern eines hebräischen Gedichts von ihm ist in seinem Ursprung ein deutsches Wortspiel, dann kommt man seinem Autor schon sehr nahe. Ich schreibe seine Zeilen dann in meiner eigenen Sprache, es ist ja mein Atem, der diese Zeilen sagt, und in dem Moment werden sie ein Stück weit meine Geschichte, denn ich versuche, die Zeilen seiner Poetik entsprechend und gleichzeitig so überzeugend auszudrücken, wie ich auch meine eigenen seelischen Bedürfnisse ausdrücke. Solange ich übersetze, seit über zwanzig Jahren, drücke ich die seelischen Befindlichkeiten anderer Leute aus. Das ist eine Art, sich einzugemeinden.

Das Gespräch mit Anne Birkenhauer führte Michael Dak.

 

Anne Birkenhauer hat u.a. Bücher von Aharon Appelfeld, Yaakov Schabtai und Yuval Shimoni, David Grossman, Eshkol Nevo, Yoel Hoffmann, Chaim Beer und Sara Shilo ins Deutsche übersetzt. Sie wurde mehrmals für ihre interkulturellen Leistungen ausgezeichnet.

Rachel Bar Haim, Annes Freundin und Kollegin, hat u. a. Bücher von Peter Handke, Patrick Süskind, Christa Wolf, Thomas Bernhard, Gerhard Hauptmann, die Briefe von Kafka an Felice, Sandor Ferency, Marcel Reich-Ranicki, Günther Grass, Peter Stamm, Katharina Hagena, Hans Keilsohn, Wilhelm Genazino, Thomas Hürlimann übersetzt. 2004 erhielt sie den Übersetzerpreis des Erziehungsministeriums.

 

Rachel Bar Haim starb völlig unerwartet am Tag, an dem wir dieses Interview führten

 

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Texte bergen Geheimnisse, und der Übersetzer soll sie nicht verraten

Anne Birkenhauer

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