Alisa Herz-Sommer

Ums Leben spielen

 

Von Gidi Dodi

Alisa Herz-Sommer, die hundertzehnjährig vor einigen Wochen in London verstarb, kam in Böhmen zur Welt und wurde in Prag zu einer gefeierten Pianistin; sie lebte in und überlebte Theresienstadt. Das Klavierspiel erhielt sie im Lager am Leben. Sie wanderte nach Israel ein und zog später auf den Spuren ihres Sohnes nach London. Sie spielte bis zu ihrem letzten Tag und erinnerte sich an jeden Tag ihres Lebens – so erzählt uns ihr Schüler und Gesprächspartner Gidi Dodi.

Seit meinen ersten Lebensjahren hat mich Alisas Musik umgeben. Als Kind erhielt ich in ihrer Wohnung im Jerusalemer Gartenviertel Rehavia Klavierunterricht, in den sie nicht selten eine Geschichte über den Sinn des Leben einzuflechten verstand, oder besser: über die Bedeutung der Musik im Leben. Alisa wanderte einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Israel ein und machte Jerusalem, die Stadt, in der alle jüdisch sind, wie sie gern sagte, zu ihrer Heimat.

Wieso es einen Ort geben konnte, an dem alle jüdisch waren, darüber hat sie sich stets gewundert. Niemand hier ruft dir „dreckiger Jude“ zu, niemand kündigt dich als „gute jüdische Pianistin“ an. Alisa hat wohl in Jerusalem in der Möglichkeit, Generationen von Pianisten zu erziehen und zu unterrichten, ihr Glück und ihren Frieden gefunden, denn die Musik bedeutete ihr alles.

Die Töne erhöhten für sie die wirkliche Welt. Als ihre Mutter in ein Todeslager geschickt wurde, spielte Alisa Tag und Nacht Schuberts Werke. „Das war meine Art, damit fertigzuwerden.“ In Terezin wartete Alisa täglich sehnsüchtig auf die Stunde, in der sie spielen und auftreten und über Musik sprechen durfte. „Die Hölle wurde zum Zuhause“, sagte Alisa immer. „Wir hatten täglich Angst, Terezin verlassen zu müssen, denn wir wussten, das bedeutete das Ende. Deswegen hofften wir, es gäbe immerzu Konzerte und alles bliebe wie es war.“

Nach dem Ende des Krieges galt es, sich mit dem Kommunismus und dem Stalinismus auseinanderzusetzen. Nach den Deutschen und der beständigen Todesangst kam die Angst vor etwas Neuem, vor einem ungekannten Zustand. Alisa war von dem Wunsch beseelt, ihr Leben wieder aufzubauen, gemeinsam mit ihrem Sohn Rafi, der mit ihr das Lager überlebt hatte. Zwar lebten sie in der ihnen vertrauten Umgebung in der Tschechoslowakei, doch das Gefühl der Unsicherheit nahm ständig zu. Die Musik aber begleitete als Konstante ihr Leben: neue Schüler kamen, sie gab Konzerte, machte Radioaufnahmen. Ihre Virtuosität auf dem Klavier machte sie auch in der kommunistischen Tschechoslowakei bekannt.

Dann kam die Einwanderung nach Israel.

Nach vierzig Jahren im Land beschloss Alisa, zu ihrem Sohn nach England zu ziehen, wo Raphael Sommer ein berühmter Cellist geworden war. „Ich möchte den Rest meines Lebens im Kreise meiner Familie verbringen“, sagte Alisa. Der Umzug nach London brachte sie zurück ins Exil, von dem Ort, an dem alle Juden waren, in eine ferne fremde Stadt. Die Schüler, die in ihre Jerusalemer Wohnung gekommen waren, wurden Erinnerung, Alisa jedoch wusste das „englische Exil“ zu einer neuen Heimat zu machen. Innerhalb kürzester Zeit gab sie auch in London Konzerte, ihr Name und ihre Persönlichkeit bereiteten ihr den Weg. Hunderte von Besuchern aus aller Welt pilgerten zu ihr in die Wohnung. Alle brannten darauf, ihr Spiel und ihre besondere Geschichte zu hören.

Später lebte auch ich für eine Zeit in London und besuchte Alisa in ihrer Wohnung. Einmal in der Woche sprachen wir stundenlang über das Leben, die Schoa, wie Alisa sie aus heutiger Warte sieht und das Leben im Gewand der Musik. Nachdem ich ihr das Nocturno in cis-Moll von Chopin vorgespielt hatte, meinte Alisa, sie könne nicht verstehen, wieso Menschen hassen, wo es doch so erhabene Musik in der Welt gäbe.

Alisa fuhr fort, sich durch das Leben zu spielen. Schuberts Werke erklangen täglich in ihrer Wohnung, „außer von zwei bis vier Uhr nachmittags, wo die Engländer das Spielen nicht erlauben. Schubert schreibt über Kreise, und ich bin am Ende meines Kreises angelangt.“

Ihr Sohn Raphael erlag in London einem Herzinfarkt. Wieder senkte sich Finsternis auf ihre Welt, sie verlor den liebsten Menschen. Nach der Beerdigung sagte sie, sie fühle sich, als habe sie erneut die Heimat verloren, immer wieder müsse sie von vorn anfangen. Morgens aufstehen und atmen, das ist das Wichtigste, sagte sie. Und nach dem Aufstehen setzte sie sich ans Klavier. Wie in ihrem ganzen Leben, entfernte sie sich in die Welt der Klänge, dort fühlte sie sich gut und erfüllt. Es war die Musik, die ihr half, den Katastrophen des Lebens zu begegnen.

Inzwischen lebe ich wieder in Israel. Von hier aus denke ich an sie als meine Lehrerin, als an eine, die mir den Weg wies, als Freundin. War ich in London, besuchte ich sie stets. Alisa bezeichnete Beethoven oft als den größten Komponisten überhaupt, vielleicht weil er sich über alle Schwierigkeiten erheben und wunderbare Musik machen konnte. Wenn Beethoven Alisa gekannte hätte, hätte er das Gleiche über sie gesagt, davon bin ich überzeugt.

 „Ich bin immer eine Optimistin gewesen und werde es immer sein“, erklärte Alisa Herz-Sommer. Vor zwei Jahren erlitt sie einen Hirnschlag. Auch danach versuchte sie – und es gelang ihr auch -, sich täglich ans Klavier zu setzen und durch die Welt der Musik zu streifen.

Bei der diesjährigen Oscar-Verleihung am 03. März 2014 erhielt der Film „The Lady in No. 6" über Alice Herz-Sommer den Oscar als bester kurzer Dokumentarfilm.

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