Benjamin Jonas, ein Vorbild

Von Professor Uri Yanay


Der werdende Staat hatte sich vielerlei Herausforderungen zu stellen, als größte aber darf wohl die Aus- und Weiterbildung der Jugend betrachtet werden. Die Nachfolgegeneration war das wichtigste Kapital, jedes Mädchen, jeder Junge stellte die Zukunft dar. Man war der Meinung, dass Investitionen im Erziehungswesen sich vielfach auszahlen würden. Auch mein Vater, der Lehrer und Erzieher Benjamin Jonas (1909 – 1985), vertrat diese Ansicht. Vater gründete das Internat “Achusat Jeladim uBet ha-Schulia“ (Kinderhof und Lehrlingsheim) auf dem Karmel in Haifa und war dort dreißig Jahre Direktor.

„Ungenügend“ für Professor Leibowitz

Vater wurde im April 1909 im fränkischen Fürth an der bayrischen Grenze geboren. Seine Eltern,Rosa und David Jonas, ernährten sich redlich vom Verkauf koscherer Milchprodukte, und Vater musste schon als Kind im Geschäft mithelfen. Sommers wie winters hängte er eine Karre an sein Fahrrad und transportierte Milchkannen zur Molkerei. Die Mutter verstarb früh, und die älteste Schwester übernahm die Verantwortung für die Familie. Mein Großvater war ein gläubiger Jude, der sich an alle Mizwoth – an die schweren wie an die leichteren – hielt und das Gleiche von seinen Kindern verlangte.

In Fürth bestand seit dem Ende des Mittelalters eine renommierte jüdische Gemeinde. Die Schulausbildung bis zum Abitur erhielt Vater an den jüdischen Schulen seiner Heimatstadt. Daneben spielte er gern Geige und war auch ein begeisterter Fußballer. Einer der Kleineren, die beim Fußball störten, war kein Geringerer als Henry Kissinger, der später von sich reden machen sollte. Vater studierte am Lehrerseminar in Köln und erwarb anschließend an der Universität Würzburg die Befähigung zum Sonderschullehrer. Meine zukünftige Mutter hatte er bereits in Köln kennen gelernt, doch seine Freizeit widmete er in erster Linie der „Esra“-Bewegung, in die er als Lernender eintrat und in der er später als Ausbilder tätig war. Jeschajahu Leibowitz war sein Gruppenleiter. Damit Vater für die Angelegenheiten der Bewegung Zeit hatte, versprach Leibowitz, ihm eine am nächsten Tag abzugebende Seminararbeit zu schreiben. Natürlich war Vater sicher, dass Leibowitz seine Sache gut machen würde und lieferte die Blätter ab, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben. Er bekam die Arbeit mit einem „ungenügend“ zurück.

Zurück zum Ursprung

In der „Esra“-Bewegung fasste Vater den Entschluss, nach Erez-Israel/Palästina auszuwandern. Seine beiden älteren Brüder waren nach Amerika gegangen und hatten dort ihr Glück gemacht, mein Vater aber verband seine Zukunft mit der Vision des jüdischen Staates. Er wollte seine Kraft dem Aufbau der wiedergefundenen Heimat der Juden widmen. An einem Frühlingsmorgen des Jahres 1933 wurde Vater auf dem Weg zur Uni in der Straßenbahn von einem deutschen Jugendlichen getreten, dazu der Schrei: „Jude – raus!“ Vater fuhr zurück, packte seine Sachen, nahm kurz Abschied von seinem Vater, meinem Großvater, und überquerte noch am selben Tag die Grenze nach Holland. In Holland arbeitete er in einem Internat für behinderte Kinder, während er sich die für die Einreise nach Palästina erforderlichen Papiere besorgte. 1934 erreichte er den Hafen von Jaffa. Im Land nahm er zunächst verschiedene Arbeiten an, versah Messer mit Horngriffen und half beim Aufstellen riesiger Strommasten beim Elektrizitätswerk in Haifa. Nebenbei verbesserte er sein Hebräisch und arrangierte die Einwanderung von Schwester und Vater. Die beiden trafen 1934 ein; in diesem Jahr heiratete Benjamin die Krankenschwester Ruth Bint, mit der er schon seit seiner Kölner Zeit befreundet war. Anderthalb Jahre nach seiner Einwanderung beschloss er, wieder in seinem eigentlichen Beruf als Sonderschullehrer tätig zu werden. Er bewarb sich im Kinderdorf Me’ir Schefeija (in der Nähe von Sichron Ja’akov) und wurde angenommen. Dr. Fürst, der Direktor des Kinderdorfs, ernannte den jungen Lehrer erst einmal zum Leiter der Bäckerei, damit er seine Zöglinge und ihre Sprache kennen lernte. Nach einem Jahr des Rührens, Knetens und Brotbackens durfte Vater dann an der Schule des Kinderdorfes unterrichten. In freien Stunden spielte er mit seinen Schützlingen Fußball und organisierte sogar einen Musikkreis, in dessen Zentrum die Geige stand, in dem aber auch andere Instrumente gespielt wurden. Mutter wurde aufgefordert, in der Gärtnerei des Dorfes auszuhelfen. Sie setzte Obstbäume und Sträucher auf der „Schefeija-Farm“ gegenüber von der Polizeistation in Sichron Ja’akov.

Explosion auf der „Patria“

Im November 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg, entschlossen sich die Briten, in Haifa an Land gegangene österreichische Einwanderer auszuweisen. Sie wurden auf die „Patria“ verfrachtet, doch die Hagana legte auf dem Schiff Bomben, um die Ausweisung zu verhindern. Das Schiff sank überraschend schnell, 267 der Flüchtlinge ertranken. Etliche Kinder wurden verletzt und/oder blieben als Waisen zurück. Die WIZO (Women’s International Zionist Organisation) erbot sich, für die Kinder zu sorgen, und brachte sie in einem „Keitana“ genannten Gebäude auf dem Karmel unter, das zehn Jahre zuvor von der Familie Wilbusch (Wilbuschwitz), den Gründern der Fabrik „Schemen“ in Haifa, gestiftet worden war. 1942 wurde Vater als Direktor an die „Keitana“ berufen, die er in eine Erziehungsinstitution mit Internat verwandelte. Wie damals üblich, wohnten auch wir dort, in einem engen Zimmer mit den Zöglingen. Für Kleidung, Ernährung, Wohnraum, den Unterricht und die pädagogischen Inhalte zu sorgen, stellte eine tägliche Herausforderung dar. Australische und indische Soldaten aus der nahegelegenen Basis der Briten spendeten heimlich Nahrungsmittel und Konserven; Drusen aus den Bergdörfern erkundigten sich, wie den Kinder zu helfen sei und trugen nicht wenig zu ihrem Unterhalt bei. Die Kindergruppen und ihr Tageslauf bezauberten die Bewohner der Umgebung, die manchen Schabbat oder andere Feiertage mit ihnen verbrachten.

Der wirkliche Schatz sind die Kinder

Aus der „Keitana“ wurde der „Kinderhof“. Eine große Hilfe war meinem Vater Rachel Kagan; sie gehörte zu den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung und war Mitglied der ersten und zweiten Knesset, später dann auch WIZO-Weltpräsidentin. Das Heim auf dem Karmel bei Haifa besteht bis heute. Anfangs lag es abseits und allein, doch als das (ursprüngliche Jeckes-) Viertel Achusa sich ausbreitete, fand es sich am Stadtrand wieder. Seit seinem Bestehen reflektiert der Kinderhof die Veränderungen und Herausforderungen der israelischen Gesellschaft. In den ersten Jahren waren dort, wie gesagt, die Überlebenden der „Patria“ untergebracht, dann kamen die Kinder derer, die sich zur Jüdischen Brigade in der britischen Armee meldeten, dann Kinder, die die Schoa überlebt hatten, und Kinder aus den Ma’abarot, den Einwanderungslagern, aus dem Jemen, dem Irak, Marokko, jede Einwanderergruppe war vertreten. Die Zuteilung erfolgte durch die Jugendalija oder, im Fall verarmter, behinderter oder kranker Eltern, durch das Sozialamt, wenn die Kinder den Wunsch äußerten, sich in die werdende Gesellschaft einzugliedern und in ihr voranzukommen.

Die erste Aufgabe der Pädagogen bestand darin, die Sprache der Kinder zu verstehen, die Kultur, die sie mitbrachten, zu identifizieren und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie der bestehenden Gesellschaft und der Gemeinschaft etwas Wichtiges zu geben hatten. Mein Vater hatte das „Haus des Lehrlings“ Anfang der Fünfziger als Heim konzipiert, wo die jungen Leute einen Beruf erlernten und abends ihre allgemeine Schulbildung vervollständigten. In den ersten zwei Jahren gab der Lehrling den größten Teil seines Verdienstes gegen Lebensunterhalt an die Institution ab, im dritten Lehrjahr (mit 17) jedoch durfte er sein Geld sparen und für die Zukunft zurücklegen.

Stolz auf eine Studie

Vater lebte im Heim und leitete es dreißig Jahre lang (1942 – 1972). Als typischer Jecke legte er Wert auf seine Kleidung, trug, ob Sommer oder Winter, Jackett und Krawatte, und grüßte jeden Schüler. Er kannte jeden einzelnen und wurde für viele, die nie ein Familienleben gehabt hatten, zur Vaterfigur. Sie brauchten einen Rahmen, in dem sie Vertrauen, Selbstsicherheit und Hoffnung entwickeln konnten, und natürlich Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Integration in die soziale Umgebung. War er voll belegt, bot der „Kinderhof“ 120 Mädchen und Jungen im Alter von 10 bis 18 ein Zuhause. Nach dem Verebben der großen Einwanderungswellen änderte sich die Ausrichtung; der Kinderhof wurde zu einem Heim für anpassungsschwierige Kinder und spezialisierte sich auf psychologische Betreuung. Auf diesem Gebiet ist er bis heute tätig.

1973 ging Benjamin Jonas in den Ruhestand. Er zog aus der bescheidenen Heimwohnung aus, ließ sich in Naharija nieder und schieb ein Buch über seine Erfahrungen mit pädagogischen Instituten, in denen neben den Prinzipien von Erziehung und Unterricht auch die Grundlagen der Psychologie, der Gesundheitserziehung und der Sozialarbeit zur Anwendung kommen. Gemeinsam mit Prof. Ras Cohen stellte er Nachforschungen nach Absolventen des Kinderhofs an. Was hatten sie aus ihrem Leben gemacht? Die Forschungsergebnisse wurden in Fachzeitschriften in Israel und in Deutschland veröffentlicht und trugen Vater Stolz und Befriedigung ein. Er setzte seine pädagogische Tätigkeit auch als Pensionär fort und gründete in Haifa die Einrichtung „Großer Bruder“, in der Freiwillige dazu ausgebildet werden, Kindern, denen es an einer erwachsenen Bezugsperson fehlt, zur Seite zu stehen. Geeignete Freiwillige mussten gefunden und ausgebildet werden, dann galt es, Kinder auszuwählen und die Paare zusammenzustellen – all das füllte Vaters Tage und Nächte. Das Sozialministerium erkannte Vaters Beitrag zur Sozialarbeit im Allgemeinen und zur Institutserziehung im Besonderen durch die Verleihung des „Hasuni“-Preises für sein Lebenswerk an (1983).

Benjamin Jonas zum Beispiel

Mein Vater ist einer aus einer Gruppe von Kollegen, die meisten davon Jeckes, die, mit Fachwissen und Sendungsbewusstsein ausgestattet, die Heimerziehung in Israel begründeten. Teils wurden die Jugendlichen zur landwirtschaftlichen Arbeit ausgebildet, teils zur Hauswirtschaft. Der „Kinderhof“ befähigte seine Zöglinge zu verschiedenen industriellen Arbeiten und Dienstleistungen. Was die Pädagogengruppe einte, war die nie ermüdende Suche nach bedürftigen Kinder und Jugendlichen, um ihnen eine berufliche Ausbildung angedeihen zu lassen, die nicht nur sie selbst und ihre zukünftigen Familien ernährte, sondern sie – dies sogar in erster Linie – befähigte, einen Beitrag zur im Aufbau befindlichen israelischen Gesellschaft zu leisten.

Im Mai 2009 lud der „Kinderhof“ zu einem Ehemaligentreffen ein. Viele Absolventen brachten ihre Enkel und Urenkel mit und zeigten ihnen, wo sie ihren Weg begonnen hatten. Die Ausgangsbedingungen so mancher von ihnen mögen schwierig und leidvoll gewesen sein, doch dann schlugen sie einen guten und ehrenhaften Weg ein. Als jemand, der auf dem „Kinderhof“ geboren wurde und mit den Schülern und dem Lehrerkollegium bis zum Militärdienst in enger Gemeinschaft lebte, erinnere ich mich an unzählige Dilemmata und Konflikte, die eigentlich immer auftraten, insbesondere jedoch in den freien Stunden, am Schabbat und an Feiertagen. An auch nur ein einziges Gespräch über Arbeitsbedingungen, Gehalt oder Beförderung kann ich mich dagegen nicht erinnern. 30 Jahre lang hat mein Vater das Internat geleitet und jeder Tag verlangte von ihm existentielle und pädagogische Entscheidungen. Die Verantwortung für das Heim und seine Schützlinge standen für Vater immer an erster Stelle, und seine Kollegen hielten es genauso. Die israelische Gesellschaft sollte die Leistung dieser Erzieher kennen und anerkennen.
Einige Quellen:

Uri Yanay ist Professor für Sozialarbeit an der Hebräischen Universität und lebt in Jerusalem; er fungiert auch als Direktor der Elternheime der Vereinigung Israelis mitteleuropäischer Herkunft

Jonas, B. (1976) Anpassungsschwierige Kinder – Erfolge und Probleme der Heimerziehung. Muenchen, Urban & Schwarzenberg.

Kohen-Raz, R. and Jonas, B. (1976) A post-residential treatment follow up of socially and emotionally deviant adolescents in Israel. Journal of Youth and Adolescence. 5, 3:235 – 250

Jonas, B. (1977) Die Heimerziehung aufgrund eines followup ehemaliger Zöglinge in Israel – Teil I.Soziale Arbeit, 26, 11: 489-497

Jonas, B. (1977) Die Heimerziehung aufgrund eines followup ehemaliger Zöglinge in Israel – Teil II.Soziale Arbeit, 26, 12: 537-548

Übersetzung aus dem Hebräischen:  Helene Seidler
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