Im Gespräch

Jehuda Gustav Brüll (geb. 1912)

Shoah-Überlebender und ehemaliger Häftling der Konzentrations- und Massenvernichtungslager Theresienstadt, Auschwitz, Dora-Mittelbau und Bergen-Belsen sowie später Koch mit einer Tochter und 3 Söhnen in Israel;

Auschwitz-Häftlingsnummer 172259

Gustav Brüll auf dem Schoß des Vaters
mit Mutter und Bruder, 1918 in Prag (1)

Jehuda Gustav Brüll in seiner Wohnung,
Sommer 2006 in Jerusalem  (1)

 Yehuda mit seinen vier  Kindern, Israel 2000

Vorwort

Als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in Israel erhielt ich die Möglichkeit über Irgun Merkas Europa mich in einem zusätzlichen Projekt zu engagieren und im Rahmen der Historischen Bildung Interviews mit deutschsprachigen Shoah-Überlebenden in einem Zeitraum von einem halben Jahr durchzuführen.
Dies sollte für mich zu besonderen und wertvollen Begegnungen für mich werden, gerade als Halter des deutschen Passes und Enkel jener sog. Täter-Generation, die zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland Verantwortung trugen, mitmachten, wegschauten oder zu wenig machten, um diese menschliche Katastrophe zu verhindern. Eine Berührung mit unterschiedlichen, schwer durch gestandenen Lebenslinien und unzähligen Momenten existentieller Angst und Bedrohung, sadistischer Gewaltlust, Morden, Trennungen, Flucht, Alleingelassenheit und Ausgestoßensein.

Den Überlebenden erhalten so die Gewissheit, dass ihr Leben, ihre Erfahrungen, Erlebnisse und Empfindungen für die nächsten Generationen aufbewahrt und Möglichkeit werden, Vergangenheit fern von sog. objektiver Geschichtsschreibung zu hinterfragen und in den Worten Überlebender Geschichte nacherzählen lassen, damit das, wofür die deutsche Sprache keine Worte finden konnte, im englischen als „Holocaust“ und im hebräischen als „Shoah“ umschrieben wird, niemals und nirgendwo sich wiederholt. Es ist geschehen und es kann wieder geschehen (Primo Levi).

Hana Aronstam-Wieser, Jehuda Gustav Brüll und Theodor Monheit gaben mir die Möglichkeit eines Gesprächs, dessen unterschiedliche Lebenslinien ich sich mir in mehreren, langen und sehr freundschaftlichen Gesprächen aufgezeichnet wurden und mich nun bemühen sollten, in unterschiedlichen Darstellungsformen im Versuch der Berücksichtigung geschichtswissenschaftlichen als auch literarischen Ansprüchen Leben von drei unterschiedlichen Menschen des 20. Jahrhunderts zu beschreiben. Diesen sind einzig und allein jüdische Wurzeln, Herkunft aus dem deutschsprachigen Raum sowie heutiges Leben in Israel gemeinsam. Politische, Religiöse und Kulturelle sowie Ethische Auffassungen, Beruf, Bezug zur Heimat, Einstellung zu Israel etc. sind grundverschieden. Und doch sollte das Schicksal der Shoah, für welches es weder rationale noch emotionale Gründe geben kann, ihre Lebenslinien zusammen führen.

Im folgenden Beitrag wird es um Jehuda Brüll gehen, einem Shoah-Überlebenden und
ehemaligen Häftling der Konzentrations- und Massenvernichtungslager Theresienstadt, Auschwitz, Dora-Mittelbau und Bergen-Belsen.

Interviewgespräch

Benjamin Köhler: Durch unsere wöchentlichen Zusammenkünfte seit rund zehn Monaten kennen wir uns ja schon sehr gut. Vieles haben Sie mir schon erzählt, dennoch möchte ich Sie bitten, mir noch einmal in folgendem Interview von Ihrem bisherigen Leben erzählen. Wo sind sie geboren und aufgewachsen? Wenn ich Ihr Deutsch höre, muss ich an Prag denken, es klingt so nach dem Prager-deutsch. Liegen dort ihre Wurzeln?

Jehuda Brüll: Ich will Ihnen sagen, in Tschecheslowakai, war immer wie in Deutschland und Österreich, es war, die Muttersprache war tschechisch, aber es gab auch Juden für die hat man gegeben die Muttersprache deutsch. Ich hab die erste, zweite und dritte Klasse, die Volksschule, die deutsche, besucht und dann ist gekommen der Umsturz im 18. Jahr [1918], und dann ist gekommen tschechisch. Aber in Tschechei hat man gut gelebt. Die Tschechen waren ein gutes Volk. Aber das ist kein Volk wie die Yuguslawen. Die kämpfen. [Die Tschechen,] kein kämpferisches Volk.

Ich hab nie gelitten, ich habe nicht einmal gewusst, da ist eine andere Rasse. Ich bin gegangen in die Kirche. Und dann hat man gewusst, ich bin ein Jude.
Ich war geboren, 1912 in Boskowicz [bei Brünn nahe Prags]. Ich hab gelebt in Boskowicz… Boskowicz.  Ich kenn die Straßen und so… Damals ist [man] gefahren zwei Stunden, heute 5 Minuten. Es war Dampf. Und Nicht so wie heute. Es waren ganz andere Zeiten. Auch der Krieg [Erster Weltkrieg] war ganz anders. Ich war klein, aber [hab] nicht gewusst was ein Krieg ist
.

Wir waren nicht reich, leider, das ist meine Mutter [auf Foto der Mutter zeigend]. Sie wurde
verbrannt im 42. Jahr [1942 in Auschwitz]. Wie schwer sie hat gearbeitet. Sie hat gestickt, geklopft, gewaschen und gekocht, hat auch gemacht das Brot, die Butter, alles. Außen Salz, Mehl und Zucker. Aber Zucker war [wie ein] Hut. Damals hat die Mutter alles gemacht Es war nicht so wie heute. Es waren keine großen Geschäfte. Und geschlafen habe ich bis 5 Jahre bei Mutter und dann mit meinem Bruder, war nicht so wie heute. Damals gab es nicht alles. Meine Mutter hat gehabt Gänse. Die hat sie verkauft und nach Prag geschickt, da wurden sie geschlachtet. Käse hat sie gemacht alleine. Und ich hab bekommen die neuen Kleider von meinem Bruder. Und wir haben gezogen das Wasser aus einem Brunnen, das Klosett war draußen. Und ich kann mich erinnern, wenn wir geschlafen haben alle, sie hat genommen ein Buch zum Lesen. Und ich weiß noch, sie hat gesagt, das war im 42. Jahr [1942] „Hab keine Angst, ich hab 20 000 Kronen. Nichts wird passieren“, und dann hat man sie verbrannt.

Ich habe einen jüdischen Vater. Wir waren 5 Kinder, zwei Mädels, meine Schwestern, haben beide später geheiratet und waren Schneiderinnen. Wir waren drei Brüder. Meine beiden Brüder, einer war Schneider, einer Tischler. Und der Tischler ist bald geworden Architekt.
Ich war immer der kleinste, der Jüngste
.

Ich war immer Sportsmann. Am Anfang war ich Fußballspieler. Und das war nicht so wie heute. Da haben wir gestohlen einen Strumpf und in den Strumpf haben wir gegeben Papier und mit dem haben wir gespielt Fußball damit. Und immer Freitag haben wir gebadet und ich war der letzte, immer ’n bissle heißes Wasser ins selbe Wasser. Und jeden Freitag hat meine Mutter gesucht einen Strumpf. Und es war der Fußball. Und jeden Freitag, wenn mein Vater zurückgekommen ist, gab es eine gute Suppe, Fett, und ich hab gesagt, mein Vater hat mehr Fett, hat mehr als ich. Es waren kleine Sachen, aber tiefe Sachen. Mein Vater ist gestorben, da war ich ungefähr 9 Jahre. Dann hat man mich gegeben in ein Waisenhaus nach Prag.

Ich bin gekommen ins Waisenhaus [Krakovská 13], als ich war 11 Jahre [1923]. Ich hab viel gelernt auch im Waisenhaus. Und der Rabbiner im Waisenhaus, der wusste ich bin von einer frommen Stadt. Der hat mich gern gehabt. Jede Nacht um zwei oder drei, er konnte er nicht schlafen, hat er mich aufgeweckt und mitgenommen zum Beten. Alle konnten schlafen, ich musste beten. Aber er hat mich gern gehabt. Das Essen war nicht gut. Das Essen war nur gut, wenn gekommen die Großen das Anschauen. Aber ansonsten war es schrecklich. Das war gut, dort hab ich gelernt das Essen. Wir haben weggeschmissen das Essen und haben gegessen Brot. Später im KZ war es leichter für mich Brot zu essen, als Leute die gewohnt sind, fett und Fleisch zu essen.
Und ich kann mich erinnern, ja da war ich schon im Waisenhaus. Da hab ich bekommen eine Hose und ich wollte nicht tragen die Hose-. Die durfte ich nur zu großen Feiertagen anziehen. Und ich hab eines Tages angezogen die Hose und hab gesehen, da ist ein Loch drin. Und es war Feiertag und der Direktor wollte, dass ich die Hose anziehe. Ich hatte Angst gehabt, dass ich Schläge bekomme, weil ein Loch drin ist. Da hab ich gesagt, ich zieh sie nur an, wenn meine Mutter kommt. Und da hat er mich gern gehabt. Und wir haben immer bekommen eine Karte und wir waren im Theater und in der Oper. Es war gut.

In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts waren sie Anfang 20. Was haben Sie in der Zeit nach dem Waisenhaus gemacht?

Ich war angestellt in einem großen Seidenwarenhaus. Als Verkäufer noch. In Prag ich war nie reich, ich hab aber gut gelebt. Da war noch kein Passport. Ich war überall.
Im Winter bin ich gefahren Schier laufen, nach dem Riesengebirge, Schneekoppe. Jeden Freitag sind wir gefahren. Den ganzen Weg mit Schiern. Oben waren wir bei einem Bauern, der hat uns aufgenommen, und gemacht eine gute Suppe für uns. Den ganzen Tag waren wir oben und den zweiten Tag sind wir denselben Weg zurückgefahren.

Und im Sommer habe ich gehabt ein kanadisches Schiff. Da hab ich gemacht alle Flüsse.
Ich hab  gemacht die Moldau, von Anfang an, die Moldau bis in die Elbe und die Elbe ins Meer. Das hat mich gekostet zwei Kronen. Nachts geschlafen bei einem Bauern.
Es war eine ganz andere Zeit. Es war schön. Und die Menschen waren auch ganz anders. Ich weiß, ich bin sehr viel gewandert. Der Baum, der Baum hatte eine Farbe. Nach der Farbe kannst du gehen. Dort kannst du schlafen, da sind zwei Betten und kannst machen Mittag. Da war eine Schachtel, da kannst du zahlen. Einmal im Monat kommt der Mensch und holt sich das Geld. Niemand hat geklaut. Auch, ich hab nie gehört, dass jemand einen ermordet. Heute ist das ganz anders.
In Bayern war es auch sehr schön und hat kein Geld gekostet. Ich war auch in Berlin, das letzte Mal im 32. Jahr [1932]. Da war schon das Staffelkommando.
Da war ein schönes Leben für mich. Ich war mit der Mutter zusammen. Mein Bruder, als der Schneider ist geworden, selbstständig in Prag und hat er genommen die Mutter zu uns. Sie hat sich später schicken lassen das Essen. Da war es dann  verboten, einkaufen zu gehen.

Wie würden Sie die Jahre Ende der 30er beschreiben, die Annektierung an das Deutsche Nazi-Reich unter Hitler und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges?

Hitler ist gekommen nach Prag, am 15. März 1939.Und da war ich schon 27. Wir haben nie gewusst, das kann so weit kommen und wird so schrecklich. Als erstes war die Judenfrage. Über Nacht. Judenverfolgung hatte angefangen schon in Deutschland. Noch denselben Tag hat man verschiedene Anordnungen gegeben. Die Juden dürfen das und das nicht, die meisten Straßen waren verboten. Wir durften nicht ins Kino, nicht ins Theater. Man durfte nicht gehen mit einem Tschechen. Ich bin gegangen mit einem Tschechen, da s habe ich Dir erzählt. Nun ja, wie soll ich Dir denn sagen. Die Juden durften einkaufen um 10 Uhr, aber da war schon nichts mehr zu haben. Wir hatten drei Zimmer, am Ende nur noch ein Zimmer, und dann mit zwei fremden Familien. Da hatten gewohnt vier, auf einmal achtzehn.
Aber das sind alles kleine Sachen, als wie dann später war. Es war schrecklich, schrecklich.
Dann ist der Krieg ausgebrochen. Der Krieg, man hat nicht gewusst. Da war Hitler schon an der Weltmacht, der hat umgestürzt den Dolchfuß. Du kennst diese Geschichte. Ich kann mich nicht mehr erinnern heute.

Sie sind verhaftet worden und ins Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt worden…in welchem Jahr?

Ich war der erste, den man hat verhaftet. Ich hab sehr viel gelitten, 6 Jahre habe ich gelitten. Von Anfang, ich glaube, bin ich der einzige auf der Welt, der noch lebt, der von 38. Jahr 1938) hat mitgemacht. 38./ 39. Jahr (1938/39) war schrecklich.

Das erste Mal ich war eingesperrt, weil ich hab nicht zu Hause geschlafen, ich kam erst nach 8 Uhr. Dafür bekam ich 8 Tage. Aber ist auch schwer in Arrest. Zuerst musst ich stehen 20 Stunden mit der Nase zur Wand, nicht rühren. Jede Stunde ist gegangen ein Soldat, und wenn du nicht gestanden hast gerade, schlug er in den Rücken rein. Zuerst bin ich gestanden, dann kam ich in einen Kerker. In einen tschechischen, für einen Menschen. Dann waren wir 20 Menschen. Das sind unglaubliche Sachen, aber das ist wahr. Das war das erste Mal.
Und das zweite Mal bin ich gegangen mit meinem Hund nach 8 Uhr spazieren. Und sie sind gekommen und haben gefragt: “Ist das Dein Hund. Du bist ein Jude, du kommst mit uns, also schick Deinen Hund nach Hause“ Sie können sich vorstellen, meine Mutter, hat nicht gewusst, wo ich bin. Und da war ich in Prag eingesperrt. Zu erst hab ich bekommen Schläge.
Da war eine große Gestapo-Zentrale. Dort'n war ich drei Wochen. Nach drei Wochen kam ich ins Ghetto. [August 1941]

Also erstes wurde gemacht, Ghetto Theresienstadt. Das war allgemein bekannt ist als Erholungslager. Aber es war schrecklich. Und die Welt hat davon gewusst.
Als ich bin gekommen nach Theresienstadt mit dem ersten Transport, wir waren ungefähr 2000, die meisten Juden von Prag. Danach waren wir mehr. Man hat genommen Juden von Deutschland und Polen. Später waren dann 20000, 30 000, 70 000. Man hat Angst gehabt, mehr sind die Menschen gestorben, als lebendig waren.

In Theresienstadt, nach drei Tagen, ich hatte gerade Kohle getragen. Auf einmal hab ich gehört, sie brauchen einen Koch. Das war mein Glück im ganzen Leben. Ich hab gesagt, ich bin ein Koch. Ich konnte nicht mal einen Tee machen. Aber wie hab ich das können sagen ich sagen, woher den Mut gehabt. Also ich habe angefangen als Koch. Ich wusste nichts. Ich habe angelernt. Und dann war ich Chefkoch für  600 Menschen, später waren in Theresienstadt 10 000 und 70 000 Menschen.

Also Birkenau [wahrscheinlich wird das Ghetto Theresienstadt gemeint sein], ich war da schon ein Koch. Schon für 10 000 Menschen. Am Anfang habe ich gemacht einmal im Monat Zwetschgenknödel. Weißt du was das bedeutet? Überhaupt das Wissen, wie man das macht. Das musste man machen großen Teig, stechen, damit Luft geht raus, dann sind sie nicht zerronnen. Später, da war ich schon bekannt. Da hab ich gekocht immer 1000 mehr. Das hab ich niemanden erzählt, sonst wär ich nicht mehr am Leben. Hab aber immer verlangt zwei Säcke Mehl mehr. Weißt du was das bedeutet? Und ich hab gemacht Brot mit der Hand. Das habe ich in meinem Leben nicht gelernt. Und zwei Kesseln Tee und Kaffee. Anstatt in der früh machen, musst ich schon anfangen, schon um acht Uhr abends einen Tag vorher am Abend. Und wieder ganz primitiv. Das sind kleine Sachen.

Die Menschen am zweiten Tag sind gestanden die ganze Nacht, haben bekommen einen Kaffee, ganz kalt. Die alten, haben gestanden die ganze Nacht, sind gestorben Und da war nichts, wo man sie begraben konnte. Also hat man gemacht eine Grube, erst für einen, dann für 20 Menschen. Da war kein Platz, nichts. Aber was soll ich sagen, wenn ich drüber nachdenk, dass ich das überlebt hab. Wissen Sie, ich erzähle das sehr schnell, aber ich habe schrecklich gelitten, so viele Schläge.

Ich bin gekommen [zurück] nach Theresienstadt. Ich hab gehabt einen großen Bruder, der war verheiratet mit seiner Frau. Ich kam vom Arrest. War alles vorbereitet. Und die Frau kam mit mir nach Theresienstadt. Und sie hat geboren, das Kind. Und ich hab gebracht zwei Ärzte, ich habe Verbindungen gehabt. Es war verboten ein Kind zu haben. Aber weil ich war ein Koch, hab ich gehabt Milch und Essen für das Kind. Hatte keiner gewusst. Es war verboten. Sonst hätte man mich erschossen schon längst. Also das Kind ist dortn aufgewachsen. Ungefähr zwei Jahre. Ich habe besorgt meinem Bruder eine Arbeit. Am Ende kam er und das Kind auf’n Transport nach Auschwitzt.
Und ich hab eine Freundin gehabt, Toinitschka. Sie war blond und schön. Eine Christin. Was soll ich Ihnen sagen. Sie wollte immer heiraten. Aber ich hab gesagt, erst nach dem Krieg.
Einmal, das war in Theresienstadt, einer von der Wache kam zu mir und sagte, Toinitschka erwartet mich bei der Familie. Und sie kam für zwei Tage nach Theresienstadt. Was sie gemacht hat alles für mich. Wie viele Male hat sie riskiert das Leben für mich. Das war alles verboten, für sie und für mich. Das kann man nicht bezahlen. Das war ein Glück, sie war ein Mensch. Wie oft hat sie vorbereitet, alles zum fliehen.

So kam zu mir ein Gendarm, ein tschechischer „Geh dort in das Zimmer rein.“ Ich bin gekommen ins Zimmer, sagte er mir, „deine Geliebte ist am Friedhof, sie wartet auf dich“. Er hat sie mitgebracht als seine Frau. Wie er es gemacht hat, weiß ich nicht. Nun ja, wie kommt man aus dem Ghetto raus. Muss man haben extra einen Passierschein. Ich hab gekannt den jüdischen Kommandant Edelstein, der Judenälteste. Der kannte einen mit Schein, Schubajew ein tschechischer Gendarm. Bin ich gegangen zu Schubajew. Ich brauch deinen Schein, dafür kannst du essen bei mir in der Küche. Hab ich angezogen die zivilen Kleider und bin gegangen, auf dem ganzen Weg hab ich gesagt Schubajew, Schubajew um mir zu merken, und bin ich gekommen zum Posten, hab ich vergessen. Es war damals noch die tschechische Gendarmerie und sie haben gesagt, „Geh“. Ich kann ich erinnern, es war Januar. Vielleicht eine halbe Stunde ging ich im neuen Schnee und sie hat auf mich gewartet am Friedhof. Ich mach auf die Tür, und da stand Toinitschka. Und sie hat mir gebracht Schuhe und Kleider, ich soll mit ihr gehen. Am Abend wartet ein Kutscher, und es war alles vorbereitet, wo ich hätte mich verstecken können. Auch die Tschechen waren gut. Aber ich hab ihr gesagt nach 5 stunden, nein, ich geh zurück. Weil, wenn ich wär weggelaufen, ich wär vielleicht auch am leben, aber bei der deutschen Seite, Himmler und so, man hätte, wenn einer ist weggelaufen, erschossen die ganze Familie. Das hätte bedeutet, meine Mutter, den Großvater, meinen Bruder mit Kind und Frau. Da hab ich gesagt, das will ich nicht. Das war schwer. Das sind Geschichten, da könnte ich Romane erzählen, nicht nur einige Sätze.

In Theresienstadt, ich kannte einen Kutscher. Ich hab geschrieben Briefe, [und verschickt] unterm Schwanz einer Kuh. Der Kutscher hat den Brief raus genommen und sie [Toinitschka] hat diese Briefe bekommen. Das haben wir gemacht, mindestens anderthalb Jahre, jede Woche. Und das bedeutet, jede Woche Risiko, Todesstrafe. Und nicht nur für mich, auch für die ganze Familie. Auch meine Sachen, die hat sie [Toinitschka] genommen zu sich nach Prag und nach dem Krieg habe ich die Sachen wieder bekommen. Ich glaub, dass kann man nicht bezahlen.

Bis wann wurden Sie von den Nazis im Ghetto Theresienstadt gefangen gehalten?

Die Alten, sie sind gefallen wie die Fliegen. Das wird die Welt nie wissen. Man hat auch Angst gehabt vor Typhus, Malaria. Im 42. Jahr, da wurde gelöst die Judenfrage. Dann haben angefangen die Transporte nach Osten, Polen, aber Transporte von ganz Europa. Aber wir wussten nicht, man hat uns nichts gesagt, die meisten Transporte gehen in ein Ghetto, nach Lizmannstadt. Es gab auch Transporte nach Treblinka.
Man hat gesagt, sie schicken ein Mustertransport nach Birkenau. Sie haben gesagt, sie bauen dort ein neues Lager auf. Man hat nicht gewusst, was Birkenau ist. Ich sollte hinfahren, in der Zeit hab ich gehabt meine Mutter und meinen Großvater in Theresienstadt. Und deshalb bin ich nicht angetreten zum Transport, und dann haben sie mich eingesperrt. [von den ersten Transporten aus dem Ghetto und KZ Theresienstadt ins Vernichtungslager Auschwitz hat kein Mensch überlebt.]

Mein Großvater war 93 Jahr, mein Alter. Der hat nicht gewusst. Ich kann mich erinnern, mein Großvater war ich Weinhändler. Und weil ich hab gearbeitet in der Küche, konnte ich sehen. Und sie haben geschickt die Kinder, und die Alten nicht, Und auf einmal kam nur ein Altentransport, alle über 80 Jahre. Und ich hab gesehen, meinen Großvater. Und von den ganzen Schreien wurde er verrückt. Und ich hatte einen Kollegen, der war Arzt, der hat gesagt, nehme deinen Großvater, binde ihn an einen Stuhl drei-vier Stunden fest auf einen stillen Platz und komm dann wieder. Nach drei vier stunden kam ich wieder. Er sagte: „Gustav, was mache ich hier?“ Ich hab gesagt, wir sind in einem Ghetto und wir sind alle hier. Dann hat mein Großvater gesagt: „Ich geh nach Prag und bringe dir eine gute Flasche Wein.“ Verstehst du? Na ja, mein Großvater war dort’n  drei Wochen, hat wieder angefangen zu schreien und ist dann gekommen nach Birkenau.

Und genauso meine Mutter, sie kam im 42. Jahr. Ich hab sie immer gerettet. Mit einem Transport, konnte sie dann aber nicht retten. Sie hat gesagt: „Mein lieber Sohn, hab keine Angst, ich habe im Busenhalter versteckt 20 000 Kronen.“ Mit dem Gewissen ist sie gefahren, man hat sie verbrannt, sie mit dem Geld. Sie ist gefahren nach Birkenau und gibt mir die Kraft, sie geht mit 20 000 Kronen, ich brauch nicht haben Angst.

Dann hab ich gesehen, ein neuer Transport, hat bekommen alles, Essen , Schuhe, Kleidung, aber nur zwei Monate. Dann ist gekommen das Rote Kreuz, das ist die Propaganda von allen Ländern, schauen wie die Menschen leben, sich das anzusehen. Sie haben sie gebracht nur in das Musterlager. Das war auch nicht in Ordnung. Das Rote Kreuz. Das wusste, wie wir leben nebenan. Das Rote Kreuz ist zurückgefahren. Und eines Morgens, ich steh auf, und das ganze Lager hat man verbrannt. 6000 Menschen, Kinder und alles. Weißt du, was es bedeutet, du stehst auf, und es ist im ganzen Lager niemand mehr.
Weil ich nicht gegangen bin zum Transport, bin ich gekommen in die Kleine Festung [KZ Theresienstadt] in Theresienstadt. [Juli 1943] Das weiß ich auch noch. Dort hab ich gelitten ein halbes Jahr. Da ist Auschwitz nichts. Ich bin der einzige Jude, der das hat überlebt. Das kann man nicht alles erzählen. Als ich gekommen bin in die Kleine Stadt, ich musste eine Woche von 4 bis 8 Uhr Steine von eine Seite auf die Zweite, 40m schleppen. Und dabei ist gekommen, wenn ich nicht machen gut, ein Soldat, einer hat geheißen Skopitz, und gibt einen Schlag. Meisten sie haben gehabt einen Hund auch. Und einmal musst ich machen von früh 2 Uhr machen Kniebeuge, 8 Stunden Kniebeuge.
In der kleinen Festung, einen Tag, wissen sie was das bedeutet, sie gehen auf die Arbeit, und man sagt, der, der und der, einer geht an den Galgen, einer wird erschossen. Jeden Tag musst du wissen, wo du stehst. Und es gibt ein Kommando, am Morgen weißt du, wohin du gehst. Ich kann mich erinnern, einer wusste, dass er aufgehängt wird. Und es gibt das Gesetz, wenn der Strick reizt, kommt er frei. Und wir haben ihn jeden Tag am Hals massiert. Das ist Galgenhumor.
Und ich weiß, das erste Mal in der kleinen Festung war ich eingesperrt alleine. Wenn du fängst eine Fliege, hab ich ihr gesagt, flieg nach Hause, geh zu meiner Mutter und erzähle, mir geht es gut.

Oder in Prag [während den ersten Inhaftierungen] war einer schon lange eingesperrt ein Kommunist und er sah aus dem Fenster einer Kirche. Und einmal in der Woche sah er Kinder auf dem Turm. Sie sahen ihn nicht, aber er hat sich vorbereitet, jeden Freitag gehen die Kinder auf den Turm und er kann sie sehen. Weißt du, was das bedeutet.

Überfüllte Häftlingsbaracken zum Aufenthalt und Schlafen (2)

Nazi-Offiziere und Soldaten, mit Namen: HEINRICH JÖCKEL, Schranz, Matz, Wachholz, Malloth, Neubauer, Mende, Feuerlein, Tröthan, , Hohenstein, SCHMIDT und ROJKO (2)

(Namen in Großbuchstaben wurde Jehuda Brüll mehrmals zum Opfer)

Arbeitskommando für die „Reichsbahn“ Usti nad Labem (2)

Auf dem Arm tragen Sie die Nummer 172259. Wann sind Sie ins Konzentrations- und Massenvernichtungslager Auschwitz deportiert worden?

In der Kleinen Festung war ich 6 Monate und von dortn hat man mich geführt nach Auschwitz. [1943/1944] Zuerst war ich in Birkenau, dann kam ich nach Monowitz. Man hat uns gemacht mit heißer Nadel die Nummer auf den Arm. Danach wir hatten keinen Namen mehr, nur die Nummer.

 Am Anfang war ich Schwerarbeiter. Dann war Schuster, Schneider, Tischler, alles, was sie gesucht haben. Sie haben gefragt und gesucht einen Schneider. Und ich war Schneider, da gab es eine Suppe. Wir mussten nur nähen die Nummern [der Häftlinge], einmal kamen sie, und wollten, dass ich ihnen nähe einen Rock. Und ich hab gesagt, ich bin kein Schneider und ich hab bekommen Schläge. Dann haben sie gesucht einen Koch, und ich war Koch. Als letztes war ich Maler. Sie haben gesucht einen Malerkommando. Bei mir war gut, ich war einer der einzigen, der konnte Deutsch. Die Tschechen, die Polen konnten kein Deutsch. Hat man was gesucht, ich war immer der erste. Das war alles Glück. Malerkommando war ich bis zum Ende. In Birkenau war ich zwei Jahre.

Und ich hab gehabt Verbindungen, da war ich schon im Malerkommando. Da hab ich gearbeitet im Kraftwerk in Buna. Ich hab gearbeitet als Maler und höre jemanden Pfeifen, hab ich gefragt, wer kann das sein. Er fragte, was ist das alles hier, bist du Arbeiter? Er konnte Deutsch, hab ich ihm alles erzählt. Und er hat mir  gebracht Briefe zu Toinitschka und von ihr aus Prag nach Theresienstadt. Alles war verboten. Weißt du, was das bedeutet. Es waren Menschen. Alles Todesstrafe, auch für ihn. Es war Krieg. Und einen Tag, da kam Heydrich zum Lager und hat geguckt, wie funktioniert das alles und man kann verbrennen 5000 Menschen. Ich kann mich heut noch erinnern, man hat gesehen, tausende Leichen, Tote.
Ich hatte immer Glück gehabt. Für mich war Glück, ich konnte deutsch. So ist das. Ich glaub zu der Zeit, heute lebt niemand mehr.

Abends hast du nicht gewusst, wer wird schlafen neben dir. Ist er doppelt so groß, nimmt er deine Decke. Was willst du machen? Oder wenn du weißt, was ein Stück Brot ist. Als wir sind gekommen nach Buna, wir haben gearbeitet in einem Kraftwerk, wir haben bekommen Zulage. Da hab ich gemacht von einem Brot sieben Scheiben. Und wir haben getauscht Brot für Schuhe. Einen Morgen bin ich aufgewacht und hab gesehen, ich hab keine Schuhe. In der nachts musst du verstecken alles unter deinem Kopf und aneinander binden. Hast du keine Schuhe, bekommst du viele Schläge. Musst du also auch Schuhe klauen. Alle haben geklaut. Das ist aber kein Diebstahl. Und wo ist der Gott? Kann es einen Gott geben?
Da war ich schon in Auschwitz und dann bekomm ich einen Brief von meinem Bruder. Er hat geheißen Maritschek, er konnte nicht ein Wort tschechisch. Mein Bruder schreibt mir, dass seine Frau mit Kind Richtung Osten fahren wollen. Ich schrieb, die Frau mit dem Kind sollen nicht mitfahren, aber es war schon zu spät. Aber leider ist der Brief zu spät gekommen, man hat die Frau mit dem Kind, 3 Jahre alt, verbrannt. Mein Bruder überlebt, ist zurückgekommen. Was für Fragen haben sie noch?

Haben Sie in Auschwitz die Befreiung durch die sowjetische Armee miterlebt?

Nein, wir sind gegangen, als die Alliierten waren immer näher. [Beginn der Todesmärsche, Todesfahrten und weiteren Verschleppungen in andere Konzentrationslager auf der Flucht vor der Roten Armee, 15.01.1945] Dann haben wir verlassen Auschwitz und sind wir gegangen 14 Tage, 15 Tage ohne Essen, ohne Trinken. Todesmarsch. Dann sind wir gegangen mit dem Lastzug, sind wir im Winter ohne Essen nach Dora gefahren. Wir sind gefahren nach Nordhausen [Konzentrationslager Dora-Mittelbau und geheime Errichtungsstätte der V1 und V2] später in einem offenen Zug. Am Anfang haben wir die Leichen rausgeschmissen. Später war es verboten. Stell Dir vor, 5-6 Tage du sitzt auf deinem Kameraden. Die sind gefallen wie die Fliegen. Aber es war gut, es war kalt. Die Leichen waren erfroren. Weißt du was es bedeutet. Wissen Sie was, das war schrecklich.
Mit uns sind gegangen die Deutschen Soldaten. Viele aus Russland, aus Stalingrad. Alle mussten vor den Russen flüchten. Ich sehe es noch heute. Ein Soldat konnt nicht mehr laufen und wollte sich ausruhen, an einem Baum. Wir liefen zusammen, ich kannte ihn gut, nach dem Krieg wollte er mich zum Essen einladen. Ein SS-Mann kam dann auf dem Fahrrad und erschoss ihn am Baum. Den  eigenen deutschen Soldaten. Ich kann das nicht verstehen.

In Dora haben sie gemacht, eine sehr moderne Fabrik in einem Berg für die V-Waffe. Und wir haben sabotiert. Und jeden Tag mussten wir anschauen, wie Kameraden aufgehängt wurden. Jeden Tag. Da kann man nichts machen. Und ich weiß noch, einmal haben sie über Nacht eine Mauer hundert Meter lang mit Leichen gemacht, tausende, zwei Meter hoch. Was kann ein Mensch aushalten. Ich will Ihnen sagen, eine Bestie war besser, als was die da haben gemacht.

Mein letztes Lager war Bergen-Belsen. Als wir sind gekommen, es waren mehr Tote als Lebendige. Und am 8. April sind gekommen die Engländer, man hat uns befreit. Ich war dort’n bis zur Befreiung 16 Tage. Bergen ist eine Stadt. Und dann mussten kommen alle Deutschen, um anzusehen und  zu reinigen. Sie haben gesagt, man hat nicht gewusst.
Auf einmal, hat man mir gesagt, die englische Kommandantur suchte mich. Ich hab nicht gewusst, was sie wollten. Ich bin hin gegangen, konnte aber kein Englisch. Also habe ich gesucht, jemanden der kann Englisch/ Tschechisch. Dann hatte ich gemacht Bekanntschaft mit meiner Frau. Sie war ohne Haare und Lehrerin. Sie konnte Englisch/ Tschechisch und Deutsch, Hebräisch auch. Sie war meine Übersetzerin, so dass ich hören konnte, was die Engländer wollen.Sie wollten von mir, dass ich Essen mache für 5000 Weiber. Aber ich habe gesagt, ich habe keine Kraft. Sie sagten, sie werden mir essen geben für die Kraft. Dann habe ich gekocht. Das war in diesen MP [Übergangslager der Alliierten zur Stabilisierung der Gesundheit]. Wir waren nun „displaced persons“, frei, aber ohne Heimat und Ziel.

Wie lange sind Sie nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 noch in Bergen-Belsen  geblieben?

Ich war in Bergen-Belsen und man hat mir gesagt, dein Bruder in Prag ist in einem Gefängnis. Ungefähr im Juli hab ich gesagt, wir fahren nach Prag. Ich bin hin gegangen in das Gefängnis, ich konnte Tschechisch, hab gesagt, wer ich bin und er kam frei. Warum ist er hingekommen? Er ist gekommen ohne Nummer, in deutscher Kleidung, man hat gedacht er ist ein Deutscher.

Wir kamen nach Prag und [meine spätere Frau und ich] wollten heiraten. Ich traf meinen alten Rabbiner. Er war so froh, dass ich lebe. Es war ja keiner mehr da. In Prag lebten einmal 3000 Juden. Er sagte, du wirst heiraten, hier in der Alt-Neusynagoge.
Ich habe angefangen zu arbeiten, wir hatten zwei Zimmer, dann ist meine Tochter in Prag geboren. Meine Frau und ich waren dann verheiratet 50 Jahren. Aber 20 Jahre war sie krank, nicht einfach, stell dir vor, jemand sagt, deine Mutter, Vater, Bruder, alles ist verbrannt.
Als ich bin gekommen nach Prag, traf ich auch Toinitschka. Sie hatte auch noch ein paar Sachen von mir, wie die Bilder und Fotos (auf die Wand zeigend). Ich hab nicht gewusst, sie hatte jemanden. Sie ist dann später gefahren nach Wien, und wir haben uns noch getroffen ein paar Mal.

Wann trafen Sie und Ihre Frau den Entschluss in Israel zu leben?

In 1949 haben wir gesagt, wir fahren nach Israel. Ich will sagen, in Prag, ich kenne jedes Haus, wo jemand gewohnt hat. Es ist schwer. Und dann meine Mutter, meine Brüder, meine Schwester, meine Eltern und Großeltern sind verbrannt. Alle. Sie haben 5 Millionen verbrannt, nicht nur einen. Von meiner Familie sind mein Bruder und ich geblieben. Mein Bruder ist gegangen nach Australien.

Wir sind gegangen 1949 nach Israel und haben gewohnt in Ramla. Meine Frau hat bekommen gleich Arbeit. Die Araber sind ja weggelaufen. War auch nicht gut. Große Ratten gab es da. Ich habe zwei Monate gebraucht um Arbeit zu finden. Ich hatte keinen Beruf und konnte nicht die Sprache, kein Ivrit [Neu-Hebräisch]. Das war nicht einfach. Dann kam einer zu mir und sagte in Ramla, die Polizei suchen sie einen Koch für 300 Menschen. Ich bin hingegangen, ich kann kochen für 300 Menschen. Da haben Sie mich gefragt, in welcher Partei ich bin. Hab nicht gewusst, welche Parteien es gibt. Dann sagten sie, der Maschgier will mit dir reden. Er fragte, ob ich weiß, was koscher ist. Ich sagte, nein, und man hat mich nach Hause geschickt.
Am Anfang war alles schwer. Dann hat man gesucht Koch in der Armee und da hab ich gekocht 12 Jahre. Nicht einfach. Ich hab gekocht für Kissinger und Peres. Als er fragte, auf welcher Universität oder in welcher Schule man so gut kochen lernt, antwortete ich  Theresienstadt war meine Schule.
Was ist koscher. Ist alles ein Blöff. Wir haben normal gekocht und in der Nacht kam der Rabbiner mit Gebetbuch und alles war in Ordnung. Es gibt koscher hundertprozent, dann musst du aber haben zwei getrennte Küchen, eine für milchig, eine für fleischig.
Nach meiner Tochter, heute Professorin für Philosophie und Psychologie in Toronto/ Kanada, wir hatten danach drei Söhne, einer beim Roten Kreuz, der andere bei der Armee und geht für die nächsten 5 Jahre nach China.  Ich hab 5 Kinder und jedes Kind ist eine neue Welt. Und ich habe 7 Enkel und zwei Urenkel.

Heute leben Sie in Jerusalem in einem Wohnheim für ältere Menschen (Talpiyot Klausener/ Koreh Hadorot 27). In meiner letzten Frage interessiert mich, wie sie sich fühlen, wie ihr Alltag aussieht? Wie ich weiß, gehen Sie gerne Schwimmen…

Ich gehe jeden Tag schwimmen im Kibbuz [Ramat Rachel] und habe dort’n viele Bekanntschaften. Ich bin heute gesund, bin hier selbstständig und habe eine eigene Wohnung, hab mich eingerichtet, mache mir mein Essen. Der beste Arzt ist der Mensch allein. Denn der Arzt ist auch mal krank. Ich traue keinem Koch, ich koche für mich allein. Ich habe zu Hause keinen Kuchen, auch nicht Zucker. Wenn man mir was anbietet, sage ich, ich fühle mich nicht so gut.

Früher habe ich viel erzählt, Vorträge gemacht in der Schule, ich war in Yad Vashem, aber heute schon nicht mehr. Die meisten die heute noch leben, sind die ungarischen Juden aus dem 44. Jahr [1944], da war es schon einfacher. Ich wurde eingeladen nach Griechenland, nach Kanada und in die Tschechei, Deutschland auch.  Damals es gab dort 300 000 Juden, heute kaum welche. Sie geben mir eine Wohnung, Pension, alles. Ich hab alles verloren. Es ist nicht einfach. Ich hab kein Ende. Manchmal träume ich davon. Das ist alles nicht einfach.
Erzählen kann man nicht alles. Das sind ja unglaubliche Sachen. Wer kann dafür, wo er ist geboren. Ich kann dafür? Und ich war früher nie im Kerker. Was hab ich gemacht? Was?
Jeder Mensch ist geboren von einer Mutter. Kann er dafür, wie er geboren ist? Ob Weiß, schwarz oder rot? Ein Mensch muss er sein. Aber heute ist die Welt auch noch nicht in „bezäder“ [hebräisch, in Ordnung]. Stell dir vor, ich sehe die Neger, die Schwarzen in Afrika, Kinder verhungern. Was sieht man da? Der Westen macht nicht viel. Wo sind Ärzte? Nicht nur ein paar Säcke Mehl. Ich sehe das anders.  Ich sage, leben und leben lassen und jeden Tag genießen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch, die Kraft und  die Bereitschaft uns von Ihren Erlebnissen und Erinnerungen teilhaben zu lassen und für die warme Zusammenkunft.

Das Gespräch führte Benjamin Köhler;
Jerusalem, den 30. Mai 2006

Den vorliegenden Text samt Änderungen
und Ergänzungen transkribierte und verfasste Benjamin Köhler;
Jerusalem, den 17. Juni 2006

Jehuda Brüll & Benjamin Köhler, Winter 2006 (1)


Nachbemerkungen

Gespräche und Zusammenkünfte zwischen Benjamin Köhler, Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, und Jehuda Brüll fanden während eines Jahres im Zeitraum von Oktober 2005 bis September 2006 statt. In diesen Verabredungen wurde über Vergangenes, Gegenwärtiges und gleich wohl auch Zukünftiges gesprochen und diskutiert. Es wurde gemeinsam gekocht und gelesen oder auch gemeinsam im nahe liegenden Kibbuz Ramat Rachel schwimmen gegangen. So ermöglichte es mir über diese vorliegende, konzentrierte Interview-Fassung hinaus, den Menschen Jehuda Brüll neben seinen zwar bestimmenden Shoah- Erfahrungen emotionaler und tiefgehender in seinen vielseitigen Fassetten zu berühren und eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen, die eine nötige Distanz im Interview nicht mehr zulässt.
Das Gespräch wurde von einer digitalen Audio-Aufnahme in den vorliegenden Text transkribiert und um den Inhaltswillen aufgrund von Wiederholungen und Gedankenssprüngen sowie der Gestaltung eines sprachlichen Rahmens und Bezugnahme auf früherer Gespräche entsprechend geändert. Das tatsächliche Gespräch liegt dem Verfasser in digitaler Form und in textlicher Reintranskribtion vor.
An Jehuda Brüll faszinierte mich sein „Prager Deutsch, und seinen warmen Optimismus, weshalb ich mich für die klassische Interview-Form entschied, die beim Original-Wortlaut bleibt und die Lebendigkeit der tatsächlichen gesprochenen Worte über grammatikalische Regeln stellt. Jehuda, durch frühere Vorträge geschult, konnte mir ein kompaktes, eindringliches und umfangreiches Bild seiner Erlebnisse und Erfahrungen beschreiben. Durch Voranschreiten des zeitlichen Abstandes zum Erlebten und der jetzigen Lebensphase des Zeitzeugen blieben einige Details unklar, veränderten das Bild teilweise bei Wiederholungen, sodass ich für richtige Ortsnamen und Zeitangaben nicht garantieren kann.
Durch frühere Vorträge, vielen Interview-Gespräche, aber auch durch eigene Kinder Jehudas, dessen Tochter anstrebt, ein Buch über ihn herauszugeben, können Vertiefungen bei Bedarf ermöglicht werden. Auch in Yad VaShem stehen Informationen über Jehuda Brülls Erlebnissen und Erfahrungen zur Verfügung.
An dieser Stelle möchte ich mich bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und Irgun Merkas Europa für ihr Engagement in Israel und die Ermöglichung dieser Begegnung bedanken, privat meiner Mutter May-Britt Köhler, die mich in all meinen Entscheidungen kraftspendend unterstützt und begleitet hat. Nur durch dieses Zusammenspiel war es mir möglich, Gespräche mit Shoah-Überlebenden zu führen und diese der  Zukunft weiterzugeben.

Anhang

Form-Anmerkungen:
[…]                            Inhaltliche und zeitliche Hinweise
Benjamin Köhler       Textpassagen fett gedruckt
Jehuda Brüll                Textpassagen kursiv gedruckt

Bildmaterialien:
(1) Aufnahmen von Benjamin Köhler
(z.T. Bild-zu-Bild-Aufnahmen von Privat-Materialien Jehuda Brülls)
(2) Aufnahmen entnommen dem Buch „Malá Peonost Terezin (Kleine Festung
Theresienstadt)“, Dokumenty Nase Vojsko CSPB 1988 nur zum privaten Gebrauch

Empfehlungen:
– Flucht aus Sobibor, Richard Rashke
– Planet Dora – Als Gefangener im Schatten der V2-Rakete, Yves Béon
– Ist das ein Mensch, Primo Levi
– Der ewige Antisemit, Henryk M. Broder

Jehuda Brüll in seiner Jerusalemer Wohnung mit Erinnerungsaufnahmen
(Prag; Karlsbrücke, oben links; jüdisches Viertel in Prag, links/ Mitte; ein Familienfoto mit Geschwistern und Eltern, Mitte; ein Portrait der Mutter, oben Mitte und ein Kunstwerk mit Motiv eines frommen Juden, rechts; Sommer 2006) (1)

Sulamit (Wohnheim), Jerusalem/ Talpiyot  93887, Straße Kore Hadorot 27, Sommer 2006

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