Die wunderbare Welt der Cessi Rosenblüth

Von Professor Uri Janay

Die Einwanderer aus Mitteleuropa haben auf vielen verschiedenen Gebieten hervorragende Leistungen erbracht. Dazu gehört auch der Ausbau des Wohlfahrtswesens, das sich um Einzelne, Familien und die Gesellschaft im Allgemeinen kümmerte. Die moderne Sozialfürsorge stammt aus Europa; die Jeckes stellten mit ihrem dort erworbenen Wissen die Wichtigkeit der Sozialarbeit in verschiedenen Lebensbereichen unter Beweis, wie wir aus dem Buch von Cessi Rosenblüth erfahren („Von Berlin nach Genigar“, im Verlag Ha-Kibbuz ha-me’uchad, 173 Seiten.

Bildung auch für Frauen

Cessi Rosenblüth (1898 – 1979) erzählt mit großer Kraft aus ihrem wechselreichen Leben; sie berichtet von Kindheit und Jugend, von ihrem Erwachsenendasein und von den extremen Veränderungen, denen sie und ihre Familie unterworfen waren. Diese Veränderungen sind wichtig, will man Cessis Berufslaufbahn verstehen. Cessi schrieb ihre Geschichte im Alter von 75 Jahren auf, nachdem sie sich in ihrem Haus im Kibbuz Genigar zur Ruhe gesetzt hatte. Wir lernen ihre Familie kennen und erfahren etliches über ihr Studium in Berlin und ihre Einwanderung ins Land, wo sie zur Zeit des britischen Mandats ihren Platz im Sozialgefüge des jüdischen Jischuw fand und später innerhalb des für die Anfangsjahre typischen israelischen Sozial- und Arbeitswesens.
Cessis Rosenblüths Lebensgeschichte beweist die Richtigkeit des Satzes „Das Leben ist ein Riesenrad, einmal oben, einmal unten“. Auf jedes Hoch im persönlichen und professionellen Leben folgte ein Tief. Cessis Vater war ein wohlhabender Jurist, der streng auf die jüdische Tradition achtete und gut für seine Familie sorgte, selbst jedoch ein intensives Leben außerhalb des Hauses führte. Cessis schöne, aristokratische Mutter widmete sich der Erziehung ihrer Tochter und wurde dabei von diversen im Hause lebenden Dienstboten und Lehrern unterstützt. In Cessis Familie zeigten sich Fälle seelischer Krankheiten; die Autorin erzählt in ihrem Buch die persönliche Geschichte der Betroffenen und nennt ihre Namen. Cessi fühlte sich während ihrer Gymnasialzeit und auch später an der Universität zu verschiedenen Fächern hingezogen. Sie suchte nach der Verknüpfung von Literatur, alter und neuer Geschichte, Philosophie, Religion etc. und bestand darüber hinaus auf Erforschung des Judentums und des Glaubens – Themen, die manche Lehrer jener Zeit, in der Hauptsache die christlichen Professoren, für unbedeutend und nebensächlich hielten, obwohl es auch andere gab, die Verständnis für Cessis intellektuelle Neugier zeigten. Cessi wählte zum Beispiel das Fach Anglistik, was in jenen Regionen damals wenig geschätzt wurde. In Breslau begann Cessi ebenfalls Sozialarbeit zu studieren, erhielt jedoch keinen Abschluss.

Freiwillige Tätigkeit wird zum Beruf

Es war das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, ein besiegtes Deutschland, das Verantwortung und Schuld auch bei den jüdischen Mitbürgern suchte, die doch Seite an Seite mit den Deutschen gekämpft hatten. Als Studentin spürte Cessi diesen Geist nur zu gut; deswegen reiste sie 1923 zum Zionistischen Kongress nach Karlsbad, wo sie einen Delegierten namens Felix Rosenblüth kennen lernte, der später ihr Mann werden sollte. Dieser Kongress verstärkte ihr zionistisches Bewusstsein und ihre Identität, so dass sie ein Jahr später mit Felix Rosenblüth in Erez Israel einwanderte, allerdings ohne einen formalen Studienabschluss oder irgendein berufliches Zeugnis in der Tasche zu haben. Diese Tatsache behinderte gleich zu Beginn – und erst recht später – ihre Eingliederung ins offizielle Wohlfahrtswesen, in dem sie einen Beitrag zu leisten wünschte. In der ersten Zeit nach der Einwanderung wohnte die Familie Rosenblüth in Haifa, wo Cessi sich als nur „freiwillige“ Sozialhelferin betätigen konnte, denn sie hatte in diesem Beruf ja keine reguläre Ausbildung vorzuweisen, obwohl sie bereits in Deutschland teilweise auf diesem Gebiet gearbeitet hatte. In Haifa widmete sie ihre Kraft der schulischen Integration jüdischer Kinder aus unterschiedlichen Vierteln. Nicht alle Familien achteten auf die Ausbildung ihrer Nachkommen. Eine besondere Herausforderung stellte für Cessi ein uneinsichtiges Familienoberhaupt aus der europäischen Diaspora dar, der sich mit seinem Clan neben dem Nescherviertel in Haifa niedergelassen hatte. Cessi musste erst einmal sein Herz erobern, bevor er der Integration seiner Kinder in das städtische Schul- und Berufsbildungssystem zustimmte. Die „Jeckin“ Cessi ging schrittweise vor und bediente sich so mancher List, um seine Anerkennung und sein Zutrauen zu gewinnen.
Im November 1942 trafen im Jischuw die ersten Nachrichten von der Schoa der europäischen Juden ein. Cessis Mann Felix beschloss daraufhin, kein deutsches Wort mehr über die Lippen zu bringen. Das war das Ende seiner europäischen Verwurzelung.

Auch den „Neturei Karta“ beistehen

Später zogen die Rosenblüths nach Jerusalem um. Cessi setzte ihre freiwillige Tätigkeit fort und stand dem WIZO-Büro vor, diesmal unter Anleitung von Henrietta Szold. Szold betrieb damals die Einrichtung von sozialen Anlaufstellen in allen Ansiedlungen. In Jerusalem stellten die „Charedim“ und im Besonderen die „Neturei Karta“ eine Herausforderung dar; es war schwer, Mittel für diese Gruppe zu beschaffen, die so dringend auf Hilfe von allen Quellen angewiesen war. Bedenken dieser Art begegnete Henrietta Szold mit der Erklärung: „Notleidenden muss geholfen werden ohne Rücksicht auf deren Herkunft oder politische Meinungen.“ (S. 69) Von diesem Prinzip ließ sich Cessi auch bei ihrer Arbeit mit vielen deutschen Einwanderern leiten. Die meisten ihrer Schützlinge litten an Angst und Bedrängnis, nachdem sie ihre Positionen, ihren Status, ihr Hab und Gut verloren hatten und völlig mittellos in Erez Israel angekommen waren. Die meisten von ihnen waren zum ersten Mal in ihrem Leben auf umfassende Hilfe angewiesen. Cessi verstand nicht nur ihre Sprache, sondern auch ihre bitteres Schicksal und konnte ihnen angemessenen professionellen Beistand bieten, obwohl sie immer noch als Freiwillige tätig war. Henrietta Szolds Büro hatte festgelegt, dass ohne entsprechendes berufliches Diplom niemand eine Position als Sozialarbeiter bekleiden durfte, sondern sich nur inoffiziell auf freiwilliger Basis betätigen konnte.

Verletzte rehabilitieren

Wohl oder übel fand sich Cessi in der Arena der angespannten Beziehungen zwischen Henrietta Szold und Sidi Vronsky wieder. Wronsky war auf Einladung Szolds und des Wa’ad ha-leumi ins Land gekommen, um eine Schule für Sozialarbeit zu gründen (S. 77). Cessi versuchten zwischen den beiden Frauen zu vermitteln und die Auswirkungen der Zwistigkeiten zu verringern. Sidi Vronsky war übrigens, nachdem sie Cissis Klugheit und Erfahrung erkannt hatte, bereit, diese als Schülerin mit Sonderstatus an ihrer Schule aufzunehmen; sie sollte nur an den Pflichtkursen teilnehmen und eine theoretische Arbeit anfertigen, statt die für sie ‚überflüssigen’ Kurse zu besuchen. Cessis Examensarbeit trug den Titel „Verwahrloste Mädchen“, was uns zeigt, dass dieses Thema schon damals ins Bewusstsein der Sozialarbeit rückte. Damit beendete Cessi ihre formale Ausbildung zur Sozialarbeiterin in einer relativ späten Lebensphase; sie war um die Vierzig und Mutter dreier Söhne: Tuvia, Gabi und Jochanan. Übrigens hörte nur der Älteste, Tuvia, in seinem Elternhaus Deutsch und ist damit der einzige der Söhne, der diese Sprache versteht und spricht. Gabi und Jochanan lernten die Eltern erst kennen, als sie bereits darauf achteten, sich nur noch auf Hebräisch zu unterhalten, das allerdings mit schwerem Jeckes-Akzent. Nach ihrer Anerkennung als ‚ordentliche’ Sozialarbeiterin, spezialisierte Cessi sich auf „berufliche Rehabilitation“ und wurde vom Wa’ad ha-leumi mit der Behandlung der in den Aufständen von 1936 – 1939 verletzten Männer beauftragt. So wurde es ihre Aufgabe, Männer, deren alltägliche Funktionsfähigkeit und viriles Selbstbild durch die Verletzung gelitten hatte, persönlich und beruflich so weit wieder aufzubauen, dass sie und ihre Familien die körperliche und seelische Beeinträchtigung überwinden konnten.

Fortbildung in Großbritannien und Hilfe für die Einwohner der Ma’abarot Übergangslager

Zur Zeit der Staatsgründung war Cessi fünfzig Jahre alt; nun begann für sie der Abschnitt, welchen C. G. Jung, wie sie zitiert, „die zweite Lebenshälfte“ genannt hat. Eine Chance zur Fortbildung eröffnete sich ihr, als sie von der UN als Vertreterin des jungen Staates zur Fortbildung auf dem Gebiet der beruflichen Rehabilitation nach England eingeladen wurde. Cessi beabsichtigte, sich auf die Behandlung von Versehrten des Zweiten Weltkriegs zu spezialisieren, die fortgesetzte intensive Behandlung brachten. Der Studienaufenthalt ermöglichte Cessi die Verbreiterung und Vertiefung ihres Wissens. Neben theoretischen Veranstaltungen erhielt sie die Möglichkeit, verschiedene britische Rehabilitierungsinstitute zu besuchen, Fragen zu stellen und die Wirklichkeit in diesen Instituten und die jeweilige Art und Weise der Leitung kennen zu lernen. Die Spezialisten stimmten zu, Cessi hinter geschlossenen Türen die Augen über die Realität der Behandlung zu öffnen, über Möglichkeiten, Grenzen und Schwierigkeiten in Bezug auf verschiedene Bevölkerungsgruppen. Cessi behauptet, dass die Fortbildung in Großbritannien und die intime Kenntnis der dortigen Verhältnisse die Grundlage für ihr berufliches Wissen bildeten und ihr Orientierungshilfe gaben, wann immer bei den Patienten auf dem Weg in ein neues Leben oder bei der Arbeit der Therapeuten Schwierigkeiten und Zwänge auftraten. Die Kombination von theoretischen Studien, Fachlektüre und Gesprächen mit Berufspraktikern erwiesen sich als effektiver Weg, möglichst großen Nutzen aus dem halbjährigen Studienaufenthalt zu ziehen, nach dessen Ablauf Cessi die Einrichtung von „Beschäftigungszentren“ auch in Israel initiierte. Noch vor Abschluss der Fortbildung bat das Wohlfahrtsministerium Cessi, ihren Aufenthalt etwas zu verlängern, und sich auch auf dem Gebiet der Sozialarbeiter-Ausbildung umzusehen. Nach ihrer Rückkehr ins Land wurde Cessi eingeladen, neben ihrer Tätigkeit Fortbildungskurse für jüdische und arabische Sozialarbeiter in Haifa zu leiten. Sie liebte das Unterrichten und ließ in ihre Kurse alles im Lande und in Britannien erworbene Wissen einfließen. Die von ihr ausgebildeten Sozialarbeiter wurden in der Stadt, in den Dörfern und in den Übergangslagern (Ma’abarot) eingesetzt, wo zahlreiche Einwanderer umfassender Fürsorge bedurften.

Pioniere der Wohlfahrt in Israel

Im Pensionsalter beschlossen Cessi und ihr Mann Felix, ihre Möbel dem Kibbuz Genigar zu schenken, in dem ihr Sohn, der später ein reguläres Kibbuzmitglied werden sollte, damals studierte. Als Gegenleistung erhielten die beiden eine (sehr) bescheidene Wohnung am Rand des Kibbuzgeländes und waren aller existentiellen Sorgen enthoben. Cessi setzte ihre Teilzeitarbeit für das Wohlfahrtsressort der Stadt Haifa fort, gründete „Beobachtungsstätten“ und „Beschäftigungszentren“ und initiierte einschlägige Kurse für die Kibbuzmitglieder zur Ausbildung als „Gesellschaftsarbeiter“ in den Kibbuzim.
Cessi Rosenblüths Buch „Von Berlin nach Ganigar“ fesselt aus dreierlei miteinander verbundenen Gründen. Erstens: es ist die wunderbare Dokumentation eines an Einsichten reichen Lebens. Schon das Vorwort verrät, dass die Autorin eine wirkliche Intellektuelle ist; sie prüft die sie umgebende Realität durch eine Vielzahl von Linsen, ist sich dabei aber bewusst, dass manche Linien und Tendenzen erst im Nachhinein zu erkennen und zu benennen waren. Zweitens: vor dem Leser wird die Geschichte vom Aufbau des Staates Israel aus sehr persönlicher, schmerzhafter und komplexer Sicht ausgebreitet. Mit der Einwanderung nach Erez Israel büßte die Familie Rosenblüth ihren gesamten Besitz ein und hatte schwere Herausforderungen zu bestehen, während sich in den Siedlungen die Geburt des Staates anbahnte. All das lässt Cessi mit großem Erzähltalent vor unseren Augen wieder erstehen. Drittens beschreibt sie in ihrem Buch mit bewundernswerter Kunst Persönlichkeiten, die sie kannte, und Ereignisse, deren Zeugin sie war. Die einzigartige Leistung der Einwanderer aus Deutschland, der „Jeckes“, wie man sie nannte, bei der Entwicklung des Wohlfahrtswesens sowohl in der Zeit des Mandats, des Wa’ad ha-leumi und später beim Aufbau des Staates Israel tritt deutlich hervor. Ihre Hauptaufgabe sahen sie in der Einrichtung von offiziellen Behörden, darunter städtische Sozialdienste, das National-Versicherungs-Institut, das Arbeits- und Wohlfahrtsministerium u.a., doch spielten sie auch eine anerkennenswerte Rolle bei der Gründung von Freiwilligen-Organisationen, die bestimmten Bevölkerungsgruppen zur Hilfe kamen, und bei der Gründung von Selbsthilfegruppen. Das Buch enthält unzählige kleine Anekdoten über Begebenheiten und Personen. Hier nur eine Auswahl von zwanzig Namen: Friedrich Ollendorf, (Oberin) Beate Berger, Else Berger, Zippora Bloch, Arthur Hantke, Hilda Hochwald, Rosa Witlis, Sidi Vronsky, Genia Tverski, Giora Josephtal, Dr. Helene Kagan, Rachel Kagan, Dr. Israel Katz, Hans Möller, Anita Miller-Cohen, Gershon Melber, Vitka Baumann, Henrietta Szold, Dr. Ruth Atron, Prof. Shimon Spiro – und andere. Welche Aufgaben hatten all jene? Warum und wie kamen sie dazu? Haben sie Cessi bei der Arbeit unterstützt? Das großartige Buch gibt auch darüber Aufschluss.

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