Lukas Welz
Dokumentation fuer den Irgun Olej Merkas Europa Jerusalem, August 2006

Kindheit in Deutschland

Ich bin Anno Domini 1923 im grosselterlichen Haus in einem kleinen Dorf in Hessen-Nassau, Flacht bei Diez an der Lahn, geboren.
Es gab eine Zaesur, einen grossen Unterschied, zwischen der norddeutschen, assimilierten, liberalen Judenheit und der sueddeutschen Judenheit, deren Grenze im Allgemeinen die Rhein-Main-Linie bildet, also von Holland ueber den Rhein mit Westphalen und Hessen zum Main bis nach Boehmen, Frankfurt, Wuerzburg, Nuernberg. Alles suedlich und westlich davon war eine sehr traditionsgebundene Judenheit mit sehr vielen Familienverbindungen. Nicht alle waren orthodox oder streng religioes aber alle, fast alle, konservativ im Gegensatz zu der sehr assimilierten Berliner und norddeutschen Judenheit. Mein Hintergrund ist der, der sehr tief verwurzelten Judenheit im sueddeutschen Raum.
Wir lebten dort nur fuenf Jahre, bis mein Vater, der Generalvertreter einer grossen Koelner Textilfirma war, nach Ludwigsburg und Stuttgart in Wuerttemberg zog, wo ich in die Volksschule ging und auch das Karlsgymnasium in Stuttgart besuchte. Als ich 12 Jahre alt war, eigentlich noch ein Kind, wanderten meine Eltern bereits nach Palaestina/Israel aus, so dass ich nur einen kurzen Einblick in meine Kindheit in Deutschland geben kann.

Ich war Gymnasiast, Gott sei es geklagt, nur zwei Jahre lang, und im Schulhof wurden wir im Karlsgymnasium in der Rotenbuehlstrasse in Stuttgart schon manchmal angepoebelt. Ich erinnere mich, dass wir, die fuenf, sechs juedischen Jungen zusammenstanden. Wir hatten einen Botanik-Lehrer, der ein verkappter Nazi war; damals konnte man noch nicht in Uniform auftreten. Ich erinnere mich an einen kleinen Zufall in Nagold im Schwarzwald. Wir machten einen Schulausflug und gingen die Hauptstrasse mit dem alten Kopfsteinpflaster den Berg hinunter, und mir fiel zufaellig aus dem Guertel der Blechnapf fuer Ausfluege, aus dem man damals noch trank, und kullerte die ganze Strasse hinunter, und die Buerger, die Menschen, auf der Strasse lachten und schrien laut: “Gerade du Judenbengel, Dir muss das passieren.”
Im wilhelminischen und auch noch im weimar-republikanischen Deutschland gab es eine Sitzordnung in den Oberschulen nach den Zeugnissen. Der Primaner, der Primus, sass in der ersten Bank auf der rechten Seite. Der Schlechteste sass hinten auf der letzten Bank – dass war nicht demokratisch. Juedische Schueler waren oft, nicht immer, in den vorderen Reihen, weil sie gute Zeugnisse hatten – das ist keine Ueberheblichkeit sondern beweisbare Tatsache. Eines Tages mussten wir aufgrund einer Nazi-Verordnung in die hinteren Bankreihen. Auch auf dem Schulhof mussten wir in der Ecke stehen und durften uns nicht mit den anderen Schuelern unterhalten.
Das war, was man heute im allgemeinen Ausgrenzung nennt. So etwas habe ich mitgemacht. Derartige einzelne Dinge gab es, aber 1936 war das doch nicht so gang und gaebe.

Mein Vater trat erst sehr spaet in Stuttgart der zionistischen Bewegung, und zwar dem Misrachi, bei. Mein Vater war vom Hause aus kein Zionist. Er war ein bewusster, traditioneller, jedoch kein orthodoxer Jude, der aus einer alteingessesenen altfrommen, im deutsch-juedischen Sinne, Landjuden-Familie stammte, der die Realschule besucht hatte, eine gute Bildung hatte, der mit Schiller in der deutschen Kultur aufgewachsen, Unteroffizier im Ersten Weltkrieg, ein Korrespondent der Frankfurter Zeitung war, ein Mann, der sich sehr fuer die Probleme des deutschen Judentums interessierte, aber auf Grund der Erfahrungen, die er machen musste, in den Jahren 1933 bis 1936, also bereits frueh auswanderte, zur Erkenntnis kam, dass, wenn man Deutschland verlassen musste, was er absolut frueh begriffen hatte, dann nur nach Palaestina, dem Land der Vaeter.
Mein Vater war 25 Jahre lang Generalvertreter der Firma Rollmann & Rose, Strump- und Textilwaren. Er besuchte Baden-Wuerttemberg und Bayern, er hatte jahrzehntelang eine treue Kundschaft, und dann, in den 30er Jahren, nach der Machtuebernahme, passierte es fast taeglich, woechentlich, monatlich in Schorndorf oder Rastatt oder in Boeblingen oder wo immer er hinkam, dass, wenn er seinen Musterkoffer aus dem Auto nahm, der Geschaeftsinhaber, mit dem er jahrelang gut befreundet war, ihm einen Wink gab und ihn quasi bat: “Bitte, Herr Frank, gehen sie doch durch den Hintereingang hinein.” Wenn er dann in der guten Stube sass oder im Buero des Geschaeftes, sagten die Leute zu ihm, der Herr oder Frau Mueller oder Kunze oder Hinze: “Lieber Herr Frank, Sie wissen doch, wie sehr wir sie schaetzen und wie gerne wir jahrzehntelang mit Ihnen geschaeftlich verbunden waren, tun sie uns einen Gefallen, kommen sie nicht mehr bei uns vorbei.” Mein Vater brauchte gar nicht zu fragen, warum, denn die Geschaeftsleute standen unter Druck der Nazis. Mein Vater wurde, wie alle anderen Juden, nach dem Boykott-Tag aus dem Beruf gedraengt, verlor noch nicht seine Position bei der Firma, aber sein Umsatz wurde immer geringer und aus vielen Gespraechen, die er mit Kollegen hatte, erkannte er, dass es keine Zukunft fuer die Juden in Deutschland gab.

Meine Mutter seligen Andenkens hatte einen sehr vermoegenden Onkel in Muenchen. Max Wilmesdoerfer – Webereien-Spinnereien, alte bayerische Familie aus Floss in der Oberpfalz stammend. Beim Abschiedsbesuch meiner Eltern in Muenchen kam mein Vater in die gute Stube, ins Herrenzimmer, und Onkel Max sagte zu ihm: “Leo, ich habe dich doch als einen vernuenftigen Menschen kennen gelernt, ich hoere, du willst nach Palaestina auswandern, wieso?” Sagte mein Vater: “Hitler, die Nazis.” “Ach, Unsinn”, erwiderte Onkel Max, “ein Anstreicher, ein Lehrling, das hat doch keinen Bestand.” Die Argumente waren ihm ausgegangen. “Ich denke nicht daran auszuwandern.” Darauf sagte mein Vater sehr vorsichtig: “Lieber Onkel Max, man kann nicht wissen, wer auch noch dran kommt.” Er antwortete: “Ich, nie im Leben werde ich Deutschland verlassen. Wenn es soweit kommen sollte, was ich bezweifle, dann werde ich das letzte Bett auf der letzten Kajuete auf dem letzten Schiff belegen.”
Es kam aber anders. Denn er kam dann am 9. November nach Dachau, wurde kurz und klein geschlagen, konnte sich aufgrund seines Vermoegens noch retten. Als er entlassen wurde, wanderte er nach Brasilien aus und starb dort zwei, drei Wochen spaeter, ein gebrochener Mann.

Mein Grossvater, mein muetterlicher Grossvater amtierte als Rabbiner, er war Lehrer, Kantor, Prediger, wie das in kleinen Gemeinden in Deutschland in diesen Jahrzehnten ueblich war: in Wesel am Rhein, wo er die Gemeinde 40 Jahre seelsorgerisch betreute. In der Familie Spier, in meiner muetterlichen Familie, gab es eine ganze Anzahl von Lehrern, und eigentlich haette ich wahrscheinlich frueh dazu tendiert oder Faehigkeiten gehabt haette, vielleicht Rabbiner zu werden, aber ich bin ein Produkt einer “gestoerten Erziehung”. Ich habe von meinem ehemaligen deutschen Vaterland in den 60er-Jahren zwei Mal 5.000 DM fuer diese “gestoerte Erziehung” erhalten. Aber das hat nichts wieder gut gemacht, denn haette ich das Karlsgymnasium beendet, haette ich die Universitaetsbildung in Deutschland geniessen koennen, oder haette mein Vater, der in sehr, sehr schwierigen wirtschaftlichen Zustaenden hier lebte, es mir ermoeglichen koennen, an der Hebraeischen Universitaet hier zu studieren, was ich versuchte, aber nicht durchfuehren konnte, dann waere aus mir wahrscheinlich ein Lehrer oder ein Professor oder ein Akademiker geworden, ich weiss es nicht. So bin ich ein Autodidakt des reinsten Wassers.

Passage

Deutschland ist meine fruehere Heimat, mit der mich heute nichts ausser Nostalgie und Pietaet gegenueber meinen Vorfahren bindet und meine Bestrebungen im Laufe der letzten Jahre waren, das christlich-juedische Gespraech zu foerdern. Aber meine Heimat ist Israel. Nach alldem was geschehen ist, kann ich Deutschland nicht mehr als Heimat bezeichnen.

Da mein Vater Kaufmann war, keinen akademischen Beruf ergriffen hatte – seine Mutter war Witwe -, wollte er in Palaestina Landwirt werden. Meine Vorvaeter waren ja Viehhaendler, es gab auch Lehrer und gebildete Leute unter ihnen. Aber im Grunde hatte er sich schon in Deutschland auf Landarbeit vorbereitet.

Mein Vater war schon 50 Jahre alt, und das war natuerlich ein erschwerender Faktor. Hinzu kam, dass er die 1.000 Pfund Sterling, die man fuer das Zertifikat brauchte, um sich als Kapitalist hier anzusiedeln, zwar zusammenbrachte, aber teilweise mit Anleihen von Verwandten aus dem Ausland. Er musste sie von hier aus zurueckzahlen, so dass es ihm nicht gelang, in eine der deutsch-juedischen Mittelstandssiedlungen zu kommen, wie Ramot Haschawim, Kfar Schmarjahu, Schawe Zion oder andere Doerfer, wo er sich mileumaessig hoechstwahrscheinlich sehr viel besser eingewoehnt haette und sich wahrscheinlich auch wirtschaftlich besser gestellt haette. Durch eine verzwickte familiaere Bindung an einen entfernten Verwandten, der eine Zitrusplantage am Tiberiassee, in Migdal bei Tiberias besass, und der ihm riet, in diese gottverlassene, damals nur 250 Seelen zaehlende kleine galilaeische Siedlung zu gehen, wurde er sehr abseits geschoben und zwar nach Migdal, das biblische Magdala. Das heisst, er konnte nicht auf gegenseitige Hilfe rechnen. Die Menschen dort waren ihm fremd. Wir waren damals in diesem Dorf zwei oder drei deutsch-juedische Familien. Er konnte sich mit niemanden aussprechen. Hebraeisch lernte er kaum. Und das Klima, 200 Meter unter dem Meeresspiegel, die schwere, harte, landwirtschaftliche Arbeit (er zog Bananen, Tomaten und hielt eine Kuh, Huehner, eine gemischte Farm) bei manchmal 40 Grad in der Sonne an den heissen, langen Sommertagen, war fuer ihn gesundheitlich sehr, sehr zermuerbend.

Kinder von deutsch-juedischen Einwanderern hatten bedeutend weniger Einwanderungsschwierigkeiten als die Eltern. Wir als Kinder, meine Schwester und ich, haben uns sehr leicht eingelebt. Ich hatte in Stuttgart in der orthodoxen Gemeinde, der mein Vater beitrat, weil er in der liberalen Hauptsynagoge in der Hospitalstrasse seinen Platz nicht finden konnte, bereits Hebraeisch gelernt. Dieser Religionsstunde habe ich ueberhaupt zu verdanken, dass ich, als ich ankam, Worte uebersetzen konnte, aus dem Gebet. Ich kam in die Ahawa, ein bekanntes, paedagogisches Institut, ein Kinderheim in Kiriat Bialik in der Haifa-Bucht von Moses Calvary, einem Schwager von Pinchas Felix Rosenblueth, und Beate Berger geleitet, eine der wichtigen erzieherischen Errungenschaften der deutschen Alija in Israel, die sehr, sehr viel zur Integration deutsch-juedischer Kinder in Palaestina beitrug. In dieser Schule, die ein Internat war, lernte ich die Sprache durch die taeglichen Unterhaltungen mit den Kindern und viele Worte, die mir nur theoretisch etwas bedeuteten und deren grammatische Einzelheiten ich nicht kannte, im Laufe der Zeit. Fuer meine Schwester und mich wie fuer alle Soehne und Toechter von Einwanderern aus Zentraleuropa, das beinhaltet natuerlich Oesterreich und die Tschechei, war es ein Leichtes, die hebraeische Sprache zu erlernen. In den ersten Monaten, waehrend meine Eltern nach einem, wir nennen das hier im Lande meschek, nach einer Farmstaette suchten, war meine kleine Schwester bei Verwandten in Haifa und ich in diesem Kinderheim untergebracht. Danach kamen wir auf die Volksschule nach Tiberias, und in dem Dorfe und in der Schule lernte ich relativ leicht Hebraeisch und gewoehnte mich schnell ein.

Ich kann nicht sagen, dass ich als Junge damals Sehnsucht nach Deutschland hatte oder dass der Umbruch uns Kindern schwergefallen sei.

Die Bibliothek, die mein Vater mitbrachte, nahm eine zentrale Stelle in der Wohnung ein. Sie ist heute in meine Bibliothek inkorporiert. Noch groesser war die Bibliothek meines Onkels, eines Zahnarztes aus Frankfurt am Main, bei dem ich das letzte Schuljahr 1938/1939 in Afula verbrachte. Mein Grossvater brachte seine religioese Bibliothek mit. Ich las viel. Das war meine Lieblingsbeschaeftigung. Obwohl ich heute Hebraeisch fliessend spreche, lese und schreibe und keinerlei Schwierigkeiten mit der Sprache habe und sehr mit ihr verwachsen bin, so ist meine hebraeische Bibliothek bis zum heutigen Tage recht duerftig im Vergleich zu ihrem deutschen und englischen Bestand.

Leben in Israel

Meine Eltern konnten nur 10 Jahre in Migdal bleiben. Die klimatischen und wirtschaftlichen Bedingungen waren sehr, sehr schwierig. Mein Vater war dann 60 Jahre alt und konnte nicht mehr koerperlich arbeiten und um 4 Uhr morgens aufstehen, mit dem Esel herunterreiten und Wasser in Blechkanistern aus einer Quelle ins Haus hinaufbringen. Das waren ja so primitive Umstaende, wie man sie sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Meine Eltern zogen dann nach Holon bei Tel Aviv, wo mein Vater spaet im Alter begann, noch einmal als Vertreter zu fungieren. Er hatte sogar Absichten, noch einmal nach Amerika  auszuwandern, was ihm aber aus vielen Gruenden nicht gelang. Er war vom Lande, von der Politik sehr enttaeuscht.

Die arabischen Unruhen 1936 und 1939 erlebten wir in dem kleinen Haeuschen, zwei Zimmer, Kueche und Dusche in Migdal bei Tiberias mit dem Blick auf den wunderschoenen Genezareth-See, aber auch gleich zu Beginn, fast jede Nacht oder mindestens zwei, drei Mal in der Woche, wurden wir von arabischen Banden, terroristischen Banden beschossen. Dort ist eine Felsanhoehung ueber Migdal, die in Verbindung steht mit der von Josephus Flavius erwaehnten Rebellion der Bar-Kochba-Aufstaendigen gegen die Roemer, gegen Herodes. Von diesem Berg schossen die Araber nachts herunter auf die Kolonie, und wir lagen als Kinder auf dem Fussboden, auf der Decke, in der Kueche unter dem Waschbecken, denn das war der einzige sichere Platz. Es gab damals im Ort keine Unterstaende. Gott sei Dank passierte nichts, aber die Zeit war eine sehr prekaere und die Gefahr, taeglich verwundet zu werden oder gar durch einen Streifschuss getoetet zu werden, bestand waehrend der ganzen Zeit auf sehr akute Art und Weise.

Nachdem es durch die Unruhen unmoeglich war, weiter nach Tiberias zu gehen, der naechstgelegenen Kreisstadt, um die Schule da zu besuchen, lebte ich bei meinem Onkel und Tante in Afula und beendete dort die Volksschule. Dann ging ich in die Stadt, nachdem ich meinem Vater auch koerperlich in der Landwirtschaft nicht helfen konnte, und wurde ausgebildeter Buchhaendler in Tel Aviv.

Weltkrieg Zwei. Man hatte die Befuerchtungen, dass Rommel von Al Alamein aus Israel ueberrennen wuerde. Tel Aviv wurde einmal von den Italiener bombardiert. Die jungen Menschen, die ein oder zwei Jahre aelter waren als ich, gingen mit der juedischen Brigade nach Europa, um gegen Hitler zu kaempfen. Man wusste, las taeglich, hoerte Radio taeglich und war ueber den Verlauf des Zweiten Weltkrieges absolut informiert. Aber, hier kommt das Aber. Abgesehen davon, dass Lebensmittel rar wurden und die Englaender, die ja damals noch das Land regierten, gewisse Restriktionen auferlegten, merkte man vom Krieg als solchem im damaligen mandatorischen Palaestina wenig. Der Vormarsch Rommels war beaengstigend, aber als die Alliierten die deutschen Truppen in Al Alamein aufgehalten hatten, atmete man auf.

Durch den Unabhaengigkeitskrieg 1948 kam ich eigentlich direkt oder indirekt zum ersten Mal in Verbindung, in Kontakt mit dem, was wir hier in Israel anglo-saechsische Einwanderer nennen, das heisst Menschen, die aus Amerika, Kanada, Suedafrika und England und anderen Englisch sprechenden Laender volontierten, um am Befreiungskriege teilzunehmen. Ich war als Sergant in einem Lager verantwortlich fuer deren Registrierung und Betreuung, lernte dadurch auch die englische Sprache. Das bereitet mich im gewissen Sinne auf die spaetere erzieherische, propagandistische und zionistische Taetigkeit in drei Laendern vor. Ich war sechs Mal auf Missionen fuer die zionistische Weltorganisation in den USA, in Kanada und in England.

Ich ging sehr frueh in die Jugendarbeit, und zwar leitete ich, fuehrte ich die Jugendgruppen der “Alija Chadascha”. Diese Partei war die von deutschen Juden, von Felix Rosenblueth und Georg Landauer gegruendete Neueinwandererpartei, die in den 40er und 50er-Jahren einen erheblichen Wahlerfolg sowohl in der Stadtverwaltung Tel Avivs und Haifas wie auch in der Knesset hatte, nachher einging oder richtiger gesagt in die Progressive Partei und dann in die Liberale Partei ueberging.
In diesem Rahmen war ich Mitbegruender einer Jugendgruppe in der Rambamstrasse 15, dem noch heute existierenden Buero der Organisation der Einwanderer aus Mitteleuropa, Irgun Olej Merkas Europa genannt, in dem auch ich in den letzten Jahren taetig war. Ich kam durch meine oeffentliche und erzieherische Taetigkeit sehr frueh dazu, aufgefordert zu werden, bereits 1950 in die USA zu gehen, um zionistische Taetigkeiten im Rahmen der dortigen amerikanisch-juedischen Jugend durchzufuehren.

Als zum ersten Mal meine Frau und ich als junges Ehepaar nach Amerika gingen, und zwar bereits 1950/1951, leitete ich eine Jugendgruppe in Boston, spaeter war ich Schaliach, das hebraeische Wort fuer Emissaer, fuer die gesamte zionistische Studentenvereinigung Amerikas, das heisst: Ich bereiste fast alle Universitaeten, Campusanlagen in Amerika, teilweise auch in Kanada, war dann spaeter in England taetig als Leiter der Einwanderungsabteilung fuer Professionelle, die beruflich in Israel taetig sein wollten. Das war 1957 bis 1959 und dann, wie gesagt, 1967 bis 1969. Durch die Euphorie, die in der Weltjudenheit nach dem Sechs-Tage-Krieg herrschte, gelang es mir und meinen Kollegen selbstverstaendlich ein grosser Erfolg. Ich war sozusagen persoenlich verantwortlich zusammen mit circa 15 Emissaeren fuer die Einwanderung von zirka 10.000 Menschen. Meine Unterschrift ist in den Akten dort zu finden, Bestaetigungen von Anleihen, Schiffskarten, Flugkarten und so weiter, Beratung, das war eine sehr segensreiche Taetigkeit.
Dann war ich noch einmal 1979 bis 1982, als unsere Kinder schon gross waren, in New York taetig, wiederum im Rahmen der Einwanderungs-abteilung, das heisst erzieherisch, propagandistisch oeffentliche Taetigkeit aktiv und kenne mich also auch in der Englisch sprechenden juedischen Welt einigermassen gut aus.
Diese oeffentliche Taetigkeit war im Grunde der Hoehepunkt meines Lebens. Ich wurde zum Schluss, und zwar direkt nach dem Sechs-Tage-Krieg, zum Leiter der Einwanderungsabteilung der zionistischen Weltorganisation in Nordamerika, USA und Kanada ernannt.
Auf Geheiss meines Vaters fuhr ich 13 Jahre nach Kriegsende, 1958, das erste Mal von London aus nach Deutschland. Seine seelische Bindungen zu Deutschland waren so intensiv und die Tatsache, dass die Friedhoefe, auf denen seine Mutter und sein Vater begraben waren, beide von den Nazis zerstoert wurden und andere Dinge, die nicht zum Thema gehoeren, er-moeglichten es ihm nicht, nach Deutschland zurueckzugehen. Er beauftragte mich, auf einer Reise von London ueber Bruessel in die Schweiz zu einer Zionistentagung, die fruehere Heimat zu besuchen und zu sehen, was uebrig geblieben war an Friedhoefen, an zerstoerten Synagogen, an juedischen Haeusern der Familie, insbesondere im Nassauischen, im Raum Frankfurt. Per Zug fuhr ich von Ort zu Ort, mich ueberall nach den Wohnhaeusern der ehemaligen Verwandten und den zerstoerten Synagogen und den meist auch zerstoerten und geschaendeten Friedhoefen umsehend, aufschreibend, fotografierend, mich huetend, nicht jemandem, den ich kannte, auch nur die Hand zu geben.
Das brachte mich zum ersten Mal in Kontakt mit dem Nachkriegsdeutschland, besonders mit der Problematik der Beziehungen zwischen Juden und Christen, der Beziehung zwischen Israelis und Deutschen nach dem Holocaust.

Es ergab sich stufenweise im Laufe der Jahre eine recht enge Verbindung von Interessen meinerseits am juedisch-christlichen und deutsch-israelischen Gespraech teilzunehmen. Ich habe mich im Laufe der Jahre – ich war inzwischen einige Male in Deutschland – damit beschaeftigt, juedische Waldfriedhoefe in kleinen Orten im Westerwald, dem Rhein-Main-Gebiet, in Hanau, teilweise in Wuerttemberg (in Berlichingen und in Gailingen) zu dokumentieren.

Einen Sommer lang habe ich mit Prof. Dr. Michael Brocke vom Ludwig-Salomon-Steinheim-Institut in Duisburg auf dem alten, ehrwuerdigen juedischen Friedhof in der Battonstrasse in Frankfurt am Main gearbeitet und hebraeische Grabsteininschriften uebersetzt und registriert. Seitdem werde ich immer wieder eingeladen, im Wuerttembergischen, im Hessischen und im Rheinland, zum Beispiel von Deutsch-Israelischen Gesellschaften, von christlich-juedischen Gespraechs-gruppen. Ich hatte das wirkliche Ver-gnuegen, eine grosse Anzahl von jungen Menschen, meistens der dritten Generation, kennen zu lernen, die versuchen zu verstehen, was das Judentum bedeutet, was der Holocaust ist.
Viele dieser Bekannten und Freunde sind mit Israel eng verbunden kommen hierher, besuchen uns, so dass also ein “Two-Way-Kontakt” mit einer Anzahl von deutschen jungen Menschen, Historikern, Forschern, Lehrern, Archivaren, Studenten und dergleichen besteht, und das ist heute eine meiner hauptsaechlichen Interessengebiete.
Ich darf von mir sagen, dass ich im Grunde die Tradition meines Vaters fortfuehre. Denn er war einer derjenigen, die bereits in den fruehen 50er-Jahren das Prinzip der Kollektivschuld absolut ablehnten und Kontakte aufnahm und wieder mit alten Freunden in Deutschland korrespondierte. Ich habe das unbewusst wahrscheinlich als Erbgut uebernommen und fuehre das, so darf ich hoffen, in seinem Sinne fort.
“Ich bin fuer menschliche Verstaendigung, ich bin fuer alle Versuche, der jungen Generation die Augen und Ohren zu oeffnen und das Verstaendnis zu foerdern fuer das, was wir, was unsere Vaeter und Vorvaeter einstmals in Deutschland geleistet haben und was der Staat Israel heute fuer uns bedeutet. Das ist meiner Meinung nach eine erzieherische Aufgabe. Wird das nicht getan, wird das – was ich auch verstehen kann – von vielen Israelis und Juden auf der Welt abgelehnt, so werden wir selbst dazu beisteuern, dass in zehn oder zwanzig Jahren all das, was auf so furchtbare Art und Weise zerstoert worden ist, voellig vergessen sein wird. Dass muss aber ins breite Volk getragen werden, und das ist eine ungeheuer wichtige erzieherische Taetigkeit, zu der wir, die letzten noch in Deutschland Geborenen, sehr viel beitragen koennen.”

Nach meiner Taetigkeit in der Baugesellschaft “Rassco”, die sehr viele Mittelstandsdoerfer im Lande gegruendet und entwickelt hat, begann die zweite Periode, indem ich im Irgun Olej Merkas Europa unter Fred Estreicher und vielen anderen eine Stellung fand, als Vizedirektor amtierte und verantwortlich war fuer drei Seniorenklubs in Jerusalem, Haifa und Tel Aviv. Nach meiner Pensionierung wurde ich Kulturreferent dieser deutschsprachigen Einwandererorganisation, die noch heute ca. 4.000 Mitglieder hat. In diesem Rahmen war ich in den letzten Jahren als Redaktionsmitglied des Mitteilungsblattes, das bereits 52 Jahre taetig. Ich redigierete anfaenglich den hebraeischen Teil, die ein gewisses literarisches Niveau hat, auch im Ausland gelesen wird. Das ist insofern von einer gewissen Bedeutung, weil doch die zweite Generation, zu der ich gehoere, heute schon Hebraeisch spricht und liest. Wenn wir also das Kulturerbe der deutschen Juden, der deutschsprachigen Judenheit und der Errungenschaften und den Beitrag der fuenften Einwanderungswelle, wie wir sie nennen, der mitteleuropaeischen Einwanderer in Israel, festhalten und versuchen wollen – ob es gelingt oder nicht, ist eine sehr prekaere Frage – an unsere Kinder und Enkel weiterzugeben, dann muss das natuerlich auf Hebraeisch geschehen, so dass ich auch dadurch glaube, einen gewissen Beitrag geleistet zu haben.

Seit 1950 bin ich mit Rita, geborene Scherl aus Berlin, verheiratet. Mein aeltester Sohn ist Leiter der Computer-Science Fakultaet an der Bar-Ilan-Universitaet in Ramat Gan. Mein zweiter Sohn lebte Jahre im Kibbuz und lebt heute in Jerusalem. Unsere Tochter ist verheiratet und hat drei Kinder, ist Keramikerin und lebt in Zahala bei Tel Aviv.

Persoenliches

Ich bin Sammler von religioesen Gebetbuechern, den so genannten Hagadot. Das ist das Buechlein, aus dem am Sederabend, am Osterfest, in jedem juedischen Haushalt gelesen wird. Der Schwerpunkt dieser Sammlung sind ueber 3.000 Hagadot. Ich sammle seit Jahrzehnten in Deutschland, auf der ganzen Welt und spaeter in Israel gedruckte, kartonierte und gebundene alte und neue Hagadot. Der zweite Teil meiner Sammlung sind in Deutschland gedruckte religioese Gebetbuecher und rituelle Werke: in Sulzbach, Frankfurt am Main, Frankfurt an der Oder, in Berlin, in Prag, in Wien usw. gedruckt, und da habe ich einige schoene bibliophile Raritaeten und seltene Buechlein, zum Beispiel dieser Band stammt aus dem Jahre 1570 und ist in Schweinsleder gebunden. Die guten alten Juden wussten nicht, dass sie ihr Gebetbuch in einem Kloster hatten einbinden lassen.
Ich habe eine Beziehung zu Buechern, und ich habe im Laufe der Jahre als Volontaer in Eigeninitiative Bestaende, Archivalia und Bibliotheken von einer recht grossen Anzahl von deutschen Einwanderern durchgesehen und nach dem Ableben der Besitzer fuer ihre Kinder treuhaenderisch verwaltet, in dem ich Archivalia, Dokumente, Briefe, Fotografien, Memoiren dem Zionistischen Archiv oder dem Leo-Baeck-Institut, mit dem ich auch eng verbunden bin, oder dem Gesamtarchiv der deutschen Juden der Hebraeischen Universitaet in Jerusalem uebergab und den Rest entweder an Bibliophile, Buchhaendler  oder zu Gunsten des Solidaritaetswerkes des IOME weiterleitete, einer sozialen Organisation, die minderbemittelte beduerftige Einwanderer aus Mitteleuropa unterstuetzt.

Ich bin nach wie vor ueberzeugter Zionist. Daher bin ich der Meinung, dass die Loesung der sogenannten “Judenfrage” historisch gesehen, nur im Lande Israel geloest werden kann.
Politisch gesehen stehe ich im religioesen Lager ganz links. Ich war einer der Mitbegruender von “Oz weShalom”, einer relativ kleinen Gruppe von religioesen Zionisten, die der allgemeinen “Schalom Achschav” Friedensbewegung angehoeren.
Ich bin fuer eine Loesung des israelisch-palaestinensischen Konflikts durch die Gruendung eines palaestinensischen Staates, trotz aller menschlichen Tragoedien, die zum Beispiel die Raeumung des Gaza-Streifens mit sich gebracht haben.
Trotz aller politischen, wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, die sich noch ueber viele Jahre erstrecken werden, bin ich absolut der Meinung, dass der Staat Israel weiter bestehen wird aber, dass sich seine juedische Bevoelkerung mit der Teilung des Landes abfinden muss und die Palaestinenser  absolut berechtigt sind, einen Staat zu gruenden.

In den obigen, recht allgemein gehaltenen Ausfuehrungen habe ich versucht, einen kurzen Abriss meines Lenebslaufes und meiner Weltanschauung zu vermitteln. So maches waere noch hinzuzufuegen, was jedoch den Rahmen dieses Interviews sprengen koennte.

Lebenslauf

Geburt in Flacht bei Diez an der Lahn (Hessen) geboren, Besuch der Grundschule und des Gymnasiums in Stuttgart

1923

Auswanderung mit Familie nach Migdal bei Tiberias in Palaestina, Besuch einer religioesen Schule in Afula

1936

Mitglied der Palestine Settlement Police in Galilaea

1942

Buchhaendler, Sekretaer in der Vereinigung von Buchimporteuren in Tel Aviv

1944

Sergant in der israelischen Armee

1948

Mitarbeiter der Jewish Agency in den USA (Mazkir Hechalutz, IZFA)

1950

Vertreter der Jewish Agency in Kanada

1952

Direktor des PATWA-Buero (Professional and Technical Workers Aliyah) in Tel Aviv

1954

Direktor Public Relations der RASSCO-Baugesellschaft

1960

Direktor des Alija-Zentrums in den USA und Kanada

1967

Direktor des israelischen Bueros der Mizrachi Frauenorganisation

1969

Direktor der Vereinigung der Einwandererorganisation aus Amerika und Kanada in Israel

1972

Israel-Emissaer des internationalen Bnai-Brith Council in Washington D.C.

1974

Koordinator fuer Gruppenprojekte der Alija-Abteilung der World Zionist Organization in Jerusalem

1975

Direktor des israelischen Alija Zentrums New York

1979

Taetigkeit im Rahmen des Irgun Olej Merkas Europa

1982

תגובה אחת

  1. נהניתי לקראו על מהלך חייך. אני חיפאית, חברת פסגת כרמל (ארגון עולי מרכז אירופה ),עד לפני חודשיים חברה בוועד המנהל, מכינה עכשיו תקציר על בית ההורים הכי ותיק שלנו "ראשוני הכרמל" לכנס הגרונטולוגי הקרוב .
    האם יש לך מידע על הארגון החיפאי מתחילת הקמת בית הורים זה? אשמח לשמוע.

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