DIE VERLORENE TRUHE

Chaja, eine „Kibbuznikit

STARKE FRAUEN IN ISRAEL

DANIELA SEGENREICH

CHAJA CNAANI liebt es auch noch im Alter von achtundachtzig Jahren, den Wiener Fleischmarkt entlangzuflanieren und über den Schwedenplatz zu schauen, allerding virtuell auf Google Earth von ihrem Computer aus.

Es sind nostalgische Spaziergänge, denn sie lebt seit vielen Jahren in Ma’agan Micha’el, einem Kibbuz an der israelischen Mittelmeerküste, etwa sechzig Kilometer nördlich von Tel Aviv, den sie als Pionierin mitgegründethat. Doch eigentlich ist Chaja gebürtige Wienerin und im Ersten Bezirk aufgewachsen.

Wir trafen einander erstmals vor einigen Jahren bei Dreharbeiten für eine Fernsehdokumentation über Altösterreicher, die Wien vor dem Zweiten Weltkrieg verlassen mussten. Ich lernte Chaja Cnaani als eine kluge und warmherzige Frau kennen, eine „Kibbuznikit“, also eine Frau aus dem Kibbuz, die im Israel der 1940er-Jahre unter schwersten Bedingungen drei dieser emeinschaftssiedlungen mit aufgebaut hat. Sie war damals schon überachtzig und kam mir auf einem kleinen Elektrofahrzeug, wie sie in den Kibbuzim von älteren Leuten oft verwendet werden, bis zum Parkplatz entgegen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie sportlich sie immer noch war und dass sie mich bei späteren Treffen im Freibad des Kibbuz beim Schwimmen noch überholen würde.

Als ich diesmal zu ihr komme, ist es Anfang November, aber noch mild und die kleinen Gärten um die Kibbuz-Häuschen sind noch üppig grün. Ich folge meiner Gastgeberin auf ihrem obligaten Elektro-Zweisitzer in ihr gemütliches Heim nur wenige Gehminuten vom Strand entfernt.

LISELOTTE AUS WIEN

Schnell sind wir wieder bei ihren Erinnerungen aus der alten Heimat: „Das Zuckerlgeschäft am Fleischmarkt, wo ich mir immer am Nachhauseweg von der Schule eine Schokolade gekauft habe, gibt’s noch immer! Ich war letztes Jahr erstmals nach so langer Zeit wieder in Wien und habe gleich nachgeschaut …Und auch das Schirmgeschäft am Schwedenplatz ist noch da!“

Chaja, damals noch Liselotte, hatte am Schwedenplatz gewohnt und bis zum Alter von zwölf Jahren ein bürgerliches, sicheres Leben gelebt, umgeben von ihren Eltern, ihrem Bruder und den Tanten, Onkeln und Cousins. Bis zu jenem für sie so traumatischen Tag im Jahr 1938, als ihre Eltern vor dem Naziregime nach Schanghai flüchteten und sie bei einer Tante zurückließen, weil sie dachten, die Flucht und das Leben in Schanghai wären zu gefährlich und anstrengend für ein knapp zwölfjähriges Kind: „Sie wollten nicht, dass ich zum Bahnhof mitkomme,aber ich bin trotzdem irgendwie hingegangen und habe sie noch in den Zug einsteigen gesehen. Danach bin ich wie verloren durch die Stadt gelaufen und muss das Bewusstsein verloren haben. Ich erinnere mich nur daran, dass ich in der Wohnung meiner Tante im Bett aufgewacht bin.“

Kurz danach konnte Liselotte als jüdisches Mädchen in Österreich nicht mehr zur Schule gehen. Sie lernte zu Hauseund wartete auf ihre Einreisegenehmigung ins damalige Palästina.

Nach etwa eineinhalb Jahren war es dann so weit und sie konnte die lange Reise mit Zug und Schiff antreten. In einem Brief an ihre Eltern, den sie erst vor kurzem für einen eseabend adaptiert hat, beschreibt sie ihre Erlebnisse und Gefühle aus dieser Zeit:


Papa, Mutti, wie sehr ich euch vermisse!

Ich schreibe euch und weiß gar nicht, ob dieser Brief euch jemals

erreichen wird. Ich weiß, dass es euch nicht gut geht in Schanghai

unter dem brutalen japanischen Regime und fühle mit euch.

Ich bin jetzt im Kibbuz Ein Gev, und endlich fühle ich, dass ich

am Leben bin. Die Zeit im Internat in Jerusalem war für mich

sehr schwer, ohne Familie und ohne Sprache, und ich war verwirrt

und alleine und verstand nicht, wer ich eigentlich bin und wohin

ich gehöre.

Mutti, erinnerst du dich an die Holztruhe, die du mir vorbereitet

hast, mit allen Dingen, die mir lieb waren? Den Büchern, Kleidern,

Spielsachen … Sie sind nie angekommen, alles wurde mir

gestohlen, als ich mit den vielen anderen Kindern aufs Schiff ging.

Aber diese Truhe hat mich in meinen Gedanken immer begleitet,

alle meine Träume, meine ganze Sehnsucht, waren da drinnen,

alles, was ich so gerne wollte und nicht hatte, beinahe war ich

selbst in der Truhe. Alles, was um mich herum geschah, war mir

unverständlich, ich war ein verlorenes Kind, traurig und verwahrlost,

ohne Gefühle.

Aber jetzt, in Ein Gev, da gibt es so großartige junge Leute, die

den Kibbuz am See Genezareth aufbauen, und die haben unsere

Gruppe gebeten, ihnen dabei zu helfen. […] Sie sind etwa Mitte

zwanzig und kommen uns „sehr alt“ vor. Und ich habe zwei Gruppenleiter,

die sich um mich kümmern und immer für mich da sind.

Plötzlich wache ich auf und fühle, dass ich wirklich lebe, dass ich

dazugehöre. Ich verstehe plötzlich, was dieses Land ist, das die

Jungen aufbauen, und ich bin ein Teil davon. Plötzlich verstehe

ich trotz allem Schmerz, dass das mein Land ist und dass ich gerettet

worden bin …

Doch für keinen Moment vergesse ich Wien und unsere liebe große

Familie und frage mich, wo sie alle sind und wie es ihnen geht.

Papa, Mutti, ihr seid in meinem Herzen immer bei mir, ich liebe

euch und mache mir Sorgen um euch.

Liselotte

Sie unterschrieb ihre Briefe an die Eltern noch mit Liselotte, doch sie war längst Chaja, was so viel wie „die Lebendige“ bedeutet, braun gebrannt und voll Leben. Sie arbeitete im Kibbuz mit einer Gruppe von Kindern, setzte ihr Schwimmtraining fort – in Wien hatte sie im jüdischen Sportklub Hakoah trainiert –, konnte sogar den See durchqueren und ritt eine weiße Stute aus dem Kibbuz.

LEBEN IM KIBBUZ

Ein Gev liegt am Ostufer des See Genezareth, nahe an den Hügeln, die damals noch zu Syrien gehörten und von wo die Syrer immer wieder hinunterschossen. Einmal besuchte Chaja zum Wochenende Freunde am Südufer des Sees. Sie hatte versprochen, rechtzeitig für ihre Arbeit mit den Kindern zurück zu sein, und als sie die Fähre verpasste und es keine Fahrmöglichkeit zurück gab, ging sie kurz entschlossen zu Fuß. Prompt wurde sie von Arabern am Weg festgenommen und eingesperrt. Es gelang ihr, aus dem Fenster zu steigen und zu flüchten. Zu Hause angekommen dachte sie, man würde sie für ihren Mut loben: „Doch ich bekam nur eine auf den Deckel, was mir denn eingefallen wäre, mich in solche Gefahr zu begeben“, erinnert sie sich an ihr Abenteuer.

Kurze Zeit später wurden Chaja und eine Gruppe von jungen Leuten dazu bestimmt, in einem Kibbuz bei Rehovot, einem Städtchen südöstlich von Tel Aviv, mitzuhelfen. Es war ein streng geheimes Projekt, denn unter der Wäscherei des Kibbuz befand sich eine affenfabrik, die man über eine kleine, versteckte Treppe erreichen konnte und von der nur ganz wenige Eingeweihte wussten, darunter auch Chaja: „Alles ging quasi vor den Augen der Briten vor sich, unterirdisch wurden die Waffen produziert und oben ging das Leben normal weiter, Kinder wurden geboren, Hühner liefen herum, Felder wurden bestellt.“

Chaja war mittlerweile Anfang zwanzig und bereits mit David befreundet, ihrem späteren Mann. Die Hochzeit war, wie so vieles in dieser stürmischen Zeit, abenteuerlich, denn sie fand mitten im israelischen Unabhängigkeitskrieg statt. Für Ringe gab es kein Geld, also borgte man welche von Freunden. Chaja trug, wie die meisten Kibbuz-Mädchen, kurze Hosen, Sandalen und zur Feier des Tages einen weißen Sarafan: „Das war damals fast

ein ‚Nationalkleid‘, ärmellos, der russischen Tracht nachempfunden, aber viel einfacher, und mit einer weißen Bluse darunter.

Nach der Zeremonie ging’s zum Eisessen auf die Tel Aviver Allenby Straße, für mehr reichte es nicht.“Kurz darauf wurde David von britischen Soldaten im Rahmen einer Razzia festgenommen und in ein Auffanglager gebracht.

Auch Chaja wurde arretiert, konnte aber flüchten. Um mit ihrem Ehemann in Kontakt bleiben zu können, fand sie eine kreative Lösung: Sie gab kurze Inserate in der damaligen Arbeiterzeitung auf, aus denen David erfahren konnte, wo sie gerade war und wie es ihr ging.

Als David freikam, lebten die beiden in Zelten im Kibbuz oder, wenn es zu kalt war oder das Zelt, wie es einmal vorkam, vom Wind weggetragen wurde, in einem Zimmer bei Verwandten oder Bekannten. Schließlich gingen sie mit Freunden nach Ma’agan Micha’el. Damals wurde der Ort noch „die Kabara-Sümpfe“ genannt, denn es gab dort nur Sumpfgebiet, Steine, Sanddünen, das Meer und gegen Osten das Carmel-Gebirge:

„Es war eine schwere Zeit. Ich hatte schon zwei Kinder und wir schliefen zuerst in Zelten, dann mit noch einer Familie in einer Baracke. Ich war schon fünfunddreißig und hatte noch keine Dusche im Haus. Wir arbeiteten schwer, versuchten die Sümpfe trockenzulegen und hatten einige Fischerboote. David baute die ersten Häuser hier.“

MODERNISIERUNG DES KIBBUZ-LEBENS

Heute ist Ma’agan Micha’el ein blühender, reicher Kibbuz und Chaja ist sichtlich stolz darauf, hat sie doch von Anfang an beim Aufbau mitgewirkt und bis zu ihrer Pensionierung immer mitgearbeitet und mitentschieden, zuerst als Buchhalterin in der Verwaltung des Kibbuz, später in großen Konzernen außerhalb.

Es gibt Fischteiche, zwei große Fabriken, Orangenhaine, Bananen-und Avocadoplantagen, einen wunderschönen Strand, ein modernes Schwimmbad, hübsche Cottages inmitten von grünen Gärten und einen riesigen Speisesaal mit Blick aufs Meer. Immerhin leben hier heute etwa zweitausend Menschen.

Die einst sozialistischen Landwirtschaftssiedlungen haben, sofern sie die ökonomischen und politischen Krisen überlebt haben, im Laufe der Jahre große strukturelle Veränderungen durchgemacht. Wurde anfangs das Ideal gelebt, dass alle gleich sind und alles allen gehört, so wuchsen manche Kibbuzim zu großen Unternehmen mit Spitzenmanagern, deren Gehälter ihrem Job angepasst wurden. Einerseits arbeiten manche Mitglieder auswärts, andererseits werden Angestellte von außen angeheuert, wenn es nötig ist. In Chajas Kibbuz verdienen dieTopmanager noch immer gleich viel wie die Arbeiter in der Wäscherei.

Die Kinderhäuser, wo alle Kinder gemeinsam aufgezogen wurden und auch über Nacht blieben, sind aber auch hierlängst abgeschafft. Und die Familien nehmen nicht mehr, wie früher einmal, alle ihre Mahlzeiten im gemeinsamen Speisesaal ein. Um eine faire Abrechnung zu ermöglichen, wurden deswegen Kupons eingeführt, und nachdem wir unsere Teller mit Salaten, Fisch und gefüllten Crêpes beladen haben, bezahlt Chaja damit an der Kasse unser gemeinsames Mittagessen.

Die spartanischen Zweizimmerbungalows, die jahrzehntelang typisch für den Kibbuz waren, werden langsam immerweiter ausgebaut und es gibt in Ma’agan Micha’el bereits einige recht luxuriöse Cottages. Auch Chajas Häuschen ist langsam gewachsen und beherbergt heute schon zwei kleine Badezimmer und zwei Schlafzimmer, sodass auch manchmal eines ihrer Enkelkinder bei ihr übernachten kann.

DAS WIEDERSEHEN

Ihren Vater hat Chaja nie wiedergesehen, er starb in Schanghai. Ihre Mutter kam erst viele Jahre später, nach vielen Irrwegen, nach Israel, als Chaja selbst schon Mutter war. Ihre Beziehung zueinander war nicht einfach: „Sie hat versucht die Zeit  zudrehen und wollte in mir noch das kleine Mädchen von damals sehen. Ich habe mich um sie gekümmert, aber unbewusst hat mich immer das Gefühl begleitet, verlassen worden zu sein.

Und sie hat das wohl gespürt, wir sprachen aber nie darüber. Erst wenige Tage vor ihrem Tod hat sie plötzlich zu mir gesagt: ‚Ich weiß, dass du denkst, ich hätte dich verlassen.‘ All diese Jahre hatte sie mit dem Verlust ihrer Kinder gelebt und nie darüber gesprochen.“

Mit ihren drei Söhnen hat Chaja eine bessere Beziehung, der jüngste von ihnen, ein Bildhauer, wohnt mit seinen Kindern auch in Ma’agan Micha’el. Ihr mittlerer Sohn wurde im Jom-Kippur-Krieg von Granatsplittern verletzt und verlor sein Augenlicht.

Sie kämpfte wie eine Löwin, fuhr mit ihm sogar für Monate zu Behandlungen in die USA, aber es half alles nichts,er blieb blind.

Heute hat sie sich damit abgefunden und sieht das halb volle Glas. Aus der traurigen, verlassenen Liselotte Laub aus Wien ist eine starke Frau mit einem erfüllten Leben geworden: „Mein Stolz ist meine große Familie, die immer weiterwächst, und ich als starke Säule inmitten von ihnen, meinen drei Kindern, zehn Enkelkindern, zehn Urenkeln und fünf Hunden, darunter ein Blindenhund.“Chaja ist froh, dass sie im Kibbuz geblieben und nicht, wie viele andere, in die Stadt gezogen ist: „Wir waren ja so verrückt damals, als wir jung waren. Aber jetzt ist Ma’agan Micha’el einerder schönsten Kibbuzim und das Leben hier ist reichhaltig und fröhlich.“ Nicht alle Immigranten hatten so viel Kraft und vielleicht auch so viel Glück wie Chaja.

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